Die Vorschau: Ein Leben im Proleten-Kiez
■ Hille Darjes liest heute abend aus den Lebenserinnerungen der Josepha M.
Es war der Schwiegersohn des Schlachtermeisters von nebenan, der Josepha M. weckte. „Haussuchung. Ich sag: Ja, und warum? Ja, der Reichstag brennt. Ich sag: Aha, der Reichstag brennt, ach Gott, denn woll'n se hier wohl die Streichhölzer suchen.“ Eine schöne, vielleicht gar die entwaffnend schönste Antwort, die man einem Polizisten am frühen Morgen des 27. Februar 1933 geben konnte, den die Kommunistenhatz an die Tür von Josepha M. geführt hatte. Gefunden hat der Schwiegersohn nichts. Denn damals, da hielt der „Kiez“ in Bremerhaven-Lehe zusammen. Noch.
Als Josepha M. in den 60er Jahren in ein Hochhaus in Bremerhavens Zentrum zieht, ist alles anders. „Abends vor de Tür stehen, über de Straße rufen, hallo, wo warst du gestern, das ist hier nicht möglich.“ Möglich war das nur in Lehe, wo links und rechts die Proleten wohnten, wo auf 32 zumeist ungeheizten Quadratmetern drei Kinder und zwei Erwachsene hausten und Männer und Frauen, die in Werften ihr trockenes Brot verdienten, der Meinung waren, „es muß mehr für den arbeitenden Menschen getan werden.“
In kurze, knappe Sätze faßt die 85jährige ihr Leben. Die Kindheit in der Wülbernstraße, ihre Arbeit als Hausmädchen „bei Pastors“ und in der Schiffswäscherei des Norddeutschen Lloyd, die Wochenendvergnügungen im Tanzlokal „Seebeck am Markt“, zwei Weltkriege und die Zeit des materiellen Nachkriegswohlstands – all das findet sich in dem kleinen Büchlein „Wir lernen ja immer, solange wir leben“. 1990 hat Hans Happel diesen geradlinig, genau und völlig ohne Selbstmitleid erzählten Lebensbericht der damals 85jährigen aufgezeichnet und wenige Jahre später auch veröffentlicht. Der Text hat das Interesse der Schauspielerin Hille Darjes geweckt, die nun heute abend, nach einer erfolgreichen Lesung in Bremerhaven, auch den BremerInnen mit einer Lesung im Focke-Museum Josepha Ms. Lebensbericht nahe bringen will. taz
Focke-Museum, 20 Uhr
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