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Sweet Home AtlantaEin Kuß, ein Schrei

■ Der Präsident sieht van Gogh, doch Präsident und Chelsea sieht keiner

Langsam wirkt die Propaganda. „Es ist heiß in Atlanta“, schallt es unaufhörlich, „nehmen Sie reichlich Flüssigkeit zu sich.“ Selbst Carl Lewis verbreitet die Mär, daß er in Atlanta bei den Trials neulich die Qualifikation über 100 und 200 Meter nur verpaßt habe, weil er nicht genug getrunken habe. Also gießen alle emsig alles in sich hinein, was ihnen in die Hände fällt. Und das ist meist Coca-Cola.

Nun hat der Sportmediziner Dr. Keul die Devise ausgegeben, daß man im feucht-heißen Atlanta selbst zum Zukucken mindestens acht Liter Flüssigkeit täglich benötige. Das ist eine Menge. Etwa 25 Dosen Coca-Cola. So etwas schafft niemand. Also erfreut sich auch das gemeine Trinkwasser großer Beliebtheit, und die halbe olympische Familie torkelt, Wermutbrüdern gleich, mit der Flasche im Griff durch das Getümmel.

Im Deutschen Haus heißt die Cola Weißbier, ist aber auch umsonst. Mühelos bekommt der Journalist hier die erforderliche Flüssigkeitsmenge verabreicht. Es besteht lediglich die Gefahr, daß er später dennoch nicht mehr in der Lage ist, die sportliche Höchstleistung des Zusehens zu vollbringen. Dann muß er Artikel über Getränke schreiben.

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„Gesichts- und geschichtslos“ sei die Olympiastadt, hieß es im Spiegel, als ob das neue Atlanta etwas dafür könnte, daß das alte von General Sherman abgebrannt wurde. Eine „nichtssagende Provinzstadt“ nannte es der führende IOC-Kritiker Andrew Jennings. Leute, die die Stadt besser kennen, wissen jedoch auch von angenehmen Seiten zu berichten. Von der lebendigen Musikszene zum Beispiel, die vor allem den Jazz und den Blues pflegt, und von vielen netten Lokalen in dieser Stadt der Universitäten, darunter der ersten schwarzen des Landes, Morehouse University. Doch die Kneipen befinden sich meist in Buckhead oder in Midtown, fernab jenes Planet Hollywood/ Hard Rock Café/House of Blues Nukleus in Downtown.

Bei einem Spaziergang durch Midtown kommt man unweigerlich am High Museum of Art vorbei. Dort wurden keine Kosten und Mühen gescheut, um dem Sport mittels einer etwas eklektizistischen Ausstellung ein paar Olympiatouristen abspenstig zu machen. „Die fünf Ringe der Leidenschaft“ sind den fünf menschlichen Emotionen gewidmet und werden mit Kunstwerken aus aller Welt und allen Epochen illustriert: „Der Kuß“ von Rodin, „Der Schrei“ von Munch, Entwürfe für Picassos „Guernica“, Monet oder van Gogh, chinesische Figuren, ägyptische Reliefs...

Da der Eintrittspreis von elf Dollar zwar nicht extrem ist – im Olympischen Ring erhält man dafür gerade zwei Becher schnödes Budweiser –, aber doch spürbar, bietet sich ein Gang zum Presseeingang an. Dort wird man von einer netten Dame in Empfang genommen und ins zuständige Büro geführt. Da ist aber niemand. „Es gibt wohl ein kleines Problem irgendwo“ , sagt die Dame, stellt Salzbrezeln sowie einen Soft Drink auf den Tisch, schaltet den Fernseher an und verschwindet mit der Bitte, man möge doch ein wenig warten.

Geraume Zeit passiert nichts. Plötzlich aber erhebt sich ein Stockwerk höher wildes Getöse und mächtiger Jubel. Wenig später kommt die zuständige Lady, zaubert nervös einen Pressepaß aus der Tasche, teilt aber mit, zur Zeit könne niemand in die Ausstellung. Auf die Frage, was denn eigentlich los sei, folgt ein sehr erstaunter Blick. „Der Präsident war da“, haucht sie, „wußten Sie das nicht?“ Mißlich nur, daß die Ausstellung trotz seines Abgangs weiter geschlossen bleibt, weil das kunstsinnigere Töchterlein Chelsea noch einige Exponate bestaunen will. Fazit: Keinen Rodin gesehen, keinen Präsidenten, nicht einmal Chelsea. Da hilft nur noch ein Weißbier im Deutschen Haus. Matti

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