: Ein Kreischen wie auf einem Justin-Bieber-Konzert
KONZERTRÜCKSCHAU Lateinamerikanische Folklorehits, mit Jazz gut aufgemischter Wüstenrock und Patti Smith mit einem Punkgebet: Am Dienstag feierte die Konzertagentur Berthold Seliger mit bunt gemischtem Programm auf der Zitadelle Spandau ihr 25-Jähriges
Eins steht fest: Patti Smith hätte man verdammt gerne als Oma. Wie sie auf der Bühne der Spandauer Zitadelle steht, einen Fuß in Rock-’n’-Roll-Manier auf dem Monitor und die rechte Faust in den Himmel geballt, mit Wollmütze und schwarzem Blazer, wirkt sie wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Wenn sie aber nach vorn an die Rampe läuft und mädchenhaft kichert ob der begeisterten Massen zu ihren Füßen, die kreischen wie auf einem Justin-Bieber-Konzert, dann merkt man: Die Godmother of Punk kann’s noch. Die 66-Jährige hat ihr Publikum in der Hand, spielt mit ihm, fordert es auf, wie ein Rudel Wölfe zu heulen, spuckt Wasser ins Publikum oder gibt gut gemeinte Ratschläge, ganz die rockende und trotzdem besorgte Oma: etwa, dass man auch viel Wasser trinken solle, wenn man sich wieder auf den Heimweg macht.
Anlass des Besuchs von Patti Smith mit ihrer Band in der Zitadelle Spandau war das Jubiläum der Konzertagentur Berthold Seliger, die seit nun 25 Jahren im Geschäft ist. Ein Geschäft, das die Agentur bei ihrer Arbeit durchaus auch als eine Art Kulturauftrag versteht: nicht allein die großen Bands auf die Bühne zu bringen, auch kleineren Perlen den Platz geben. Und nicht nur Rock, sondern dazu das eine oder andere aus dem Fach, das man manchmal Weltmusik nennt. Eine Bandbreite, die sich bei dem Jubiläumskonzert am Dienstag kompakt widerspiegelt.
Neben der Headlinerin Patti Smith spielen die Klezmerband Bratsch, die Wüstenrocker Calexico und Depedro, das Soloprojekt von Jairo Zavala. Seinen Auftritt beginnt der Ex-Amparanoia- und jetzige Calexico-Gitarrist mit einem Lied „for my mexican friends out there“, „La Llorona“, ein Hit aus der lateinamerikanischen Folklore. Und mehr als Zavalas geniales Gitarrenspiel, seine beeindruckend großen Koteletten und eingängigen Melodien braucht es nicht, um die Leute vom Bierstand in Richtung Bühne zu locken.
Das Publikum ist gut gemischt, die Generation 50 plus trägt überwiegend lange graue Haare, vereinzelt sind Batik-Shirts und Trekkingsandalen zu sehen. Ein paar Anzugträger sind wohl direkt nach der Arbeit zum Konzert gekommen und lockern nun ihre Krawattenknoten. Ein Vater hat seinen 14-jährigen Sohn mitgebracht, „damit der mal die Musik kennenlernt, die wir früher so gehört haben“.
Auch andere junge Leute sind gekommen. Mädchen in Patti-Smith-T-Shirts flanieren händchenhaltend über das Gelände. Patti sei einfach eine coole Frau, so eine gebe es heute nicht mehr, finden zwei junge Frauen, von denen eine extra aus Barcelona angereist ist.
Dann kommen Bratsch auf die Bühne. Auch so ein Club alternder Männer, die Band gibt es seit Anfang der 70er Jahre. Und sobald die Franzosen beginnen, ihre wilde, von Klezmer, Blues und Jazz inspirierte Musik zu spielen, wippt das Publikum kollektiv. Als die ersten Steckmücken über den Köpfen der schwitzenden Menge schwirren, übernehmen Calexico die Bühne. Jeder der fünf Musiker ist ein Multiinstrumentalist, ständig wird das Akkordeon gegen die Trompete gegen die Triangel gegen die Gitarre getauscht. Traditionell mexikanische Mariachi-Songs wechseln sich ab mit Wüstenrock und Latin-Jazz-Stücken, die Menge kommt ins Kochen, ein Mann im Publikum tanzt einen selbstvergessenen Ausdruckstanz, eine Frau wirft Kusshände in Richtung Bühne und zeigt das Victory-Zeichen, das wohl zeigen soll, dass Calexico am Dienstag wieder mal einen Sieg eingespielt haben.
Als Patti Smith zur Nacht hin die Bühne betritt, gähnen die ersten ZuhörerInnen. Doch die amerikanische Rocklegende nimmt sie sofort für sich ein. Das Schöne an ihren etwas aus der Zeit gefallenen Rockstar-Gesten: Sie sind frei von Ironie. Wenn sie zu einer Art Punkgebet anhebt und die ZuhörerInnen anheißt, ihre Arme zum Himmel zu erheben, mag man das für religiösen Kitsch halten – aber Smith meint das ernst. Auch wenn sie zum Publikum sagt: „You have to believe in yourself“, bevor sie „People Have The Power“ singt. Und spätestens, als sie den Whistleblower Edward Snowden in ihren wohl besten Song „Gloria“ mit aufnimmt, wird einem klar, dass hier gerade die coolste Oma die Bühne rockt. ANNE-SOPHIE BALZER