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Archiv-Artikel

Ein Jammerlappen

In „Außer Kontrolle“ inszeniert Regisseur Christian Görlitz einen Reigen der Selbstsüchtigen – düster, aber gelungen

Das Monströse offenbart sich im Melodram noch in der kleinsten Geste – so wie in dem ersten Bild dieses Films: Ein Mann kauert im Rollstuhl und streichelt den Fernsehbildschirm vor ihm. Darauf ist die Videoaufnahme einer Frau zu sehen, die sanft in die Kamera singt. Eine Krankenschwester scheucht den Trauerkloß im Rollstuhl auf, guckt die Sängerin im Fernsehen an und sagt: „An ihrer Stelle würde ich ihnen nicht verzeihen.“ Hier ist offensichtlich ein zwischenmenschliches Verbrechen geschehen, und die Versehrtheit des Rollstuhlfahrers könnte eine Art gerechte Strafe sein.

Regisseur Christian Görlitz („Die Geisel“) macht fast alles richtig: Als Rückblende offenbart er die fatale Verbindung von vier Menschen, ihre Sehnsüchte und Ängste, aber auch ihren verdeckten oder offenen Egoismus. Die Gefühle werden zugespitzt, bis die Situation eskaliert.

Hinter der melodramatischen Verdichtung tut sich ein komplexes Abhängigkeitsgeflecht auf: Da ist zu allererst Jörg (Josef Bierbichler), der Mann im Rollstuhl. Bevor die Ereignisse eskalieren, ist er ein kraftstrotzendes Ekel. Zwei Zentner Welthass und Selbstverachtung. Er säuft und doziert dabei über die eigenen Mängel, aus denen er die Sorgepflicht der anderen ihm gegenüber ableitet. Seine Frau Lisa (Christiane Paul) nimmt seinen brachialen Defätismus hin, kümmert sich tapfer um die eigene Karriere als Sängerin und ums gemeinsame Kind. Dann ist da noch der Hausfreund Dieter (Jürgen Vogel), dessen Tröstungen keineswegs selbstlos sind. Komplettiert wird das Quartett von Dieters Frau Sylvia (Suzanne von Borsody). Keiner liebt sie, auch nicht ihr Mann, deshalb hat sie in diesem Reigen der Selbstsüchtigen die schlechtesten Karten. Das scheint sich zu ändern, als das Schlimmste eintritt: Das Kind von Jörg und Lisa stirbt, als der Vater sich mal wieder besinnungslos säuft und vom Balkon stürzt.

Nein, es ging nicht weniger drastisch. In seiner Zuspitzung folgt dieses Selbstzerfleischungsszenario aus dem Medienmilieu konsequent der Logik des Melodrams. Hier ist alles überlebensgroß – die Gefühle der Menschen wie die Verwüstungen, die sie hinterlassen. Ständig schreiben sie tolle Zeitungsartikel, gern intellektualisieren sie über das Thema Selbstmord. Gelegentlich fühlt man sich an Louis Malles’ durchkomponierte Suizidreflexion „Das Irrlicht“ erinnert. Dort macht der todessehnsüchtige Protagonist ernst, hier indes bringt es der nihilistische Brocken Jörg nur in den Rollstuhl. Der Jammerlappen liebt das Leben eben mehr, als er glauben mag.CHRISTIAN BUSS

„Außer Kontrolle“, ZDF, 20.15 Uhr