Ein Jahr nach dem Kundus-Luftschlag: "Nie wieder Afghanistan"
Wie hat sich Deutschland seit dem Luftschlag verändert? Ein Ex-Soldat, ein Abgeordneter, die Mutter eines Soldaten und ein Sozialforscher antworten.
Kundus, im vergangenen Dezember. Ein Routinetag. Martin F. steht an einer Brücke und bewacht Bauarbeiter. Er ist aufmerksam, achtet auf jede Bewegung, jede Kleinigkeit. Gegen Abend wird es neblig. Innerhalb von Sekunden ändert sich die Stimmung. Aufständische beschießen die Truppe mit Panzerfäusten. F. erleidet schwere Verletzungen am Kopf. Ob es Taliban sind oder Kriminelle, erfährt er nie.
In Deutschland wird über den Vorfall kaum berichtet, wahrscheinlich fehlt die Dramatik. F. ist frustriert. Die Bundeswehr will ihm trotz der bleibenden Schäden keine Rente gewähren. Seit dem Frühjahr ist der frühere Soldat zurück aus Kundus, dem Ort, wo vor einem Jahr auf deutschen Befehl ein Tanklaster bombardiert wurde und bis zu 142 Menschen ums Leben kamen.
In Deutschland hätten die Menschen gesagt, "um Gottes willen, wie kann Oberst Klein so etwas anordnen", berichtet F. Aber er habe in Kundus keinen Soldaten erlebt, der Georg Klein kritisiert hätte. Auch er fand den Bombenangriff auf den Tanklaster in Ordnung. "Danach hatten wir relative Ruhe."
Was geschah: In den Morgenstunden des 4. September 2009 befielt der deutsche Oberst Georg Klein einen Angriff auf eine Gruppe Afghanen, die sich in der Nähe eines Tanklasters aufhalten. Kurz darauf wirft eine amerikanische F-15 Bomben auf die Gruppe ab.
Die Folgen: Die Opferzahl schwankt zwischen 91 und 142 - darunter viele Zivilisten und Kinder. Die Bombennacht geht als der blutigste Einsatz in die Geschichte der Bundeswehr seit dem Zweiten Weltkrieg ein.
Politische Konsequenzen: Der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) muss nach der Bundestagswahl als Arbeitsminister zurücktreten. In einem Untersuchungsausschuss nimmt die Opposition auch Jungs Nachfolger, Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), unter Beschuss. Dieser bleibt jedoch im Amt - obwohl er unter fragwürdigen Umständen seinen Staatssekretär Peter Wichert und den Bundeswehr-Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan entlässt. Bei Oberst Georg Klein stellt die Bundeswehr "keine Anhaltspunkte für ein Dienstvergehen" fest.
Die Opfer: Der Bremer Anwalt Karim Popal vertritt die Opfer von Deutschland aus. Er fordert statt den von der Bundesregierung gezahlten rund 5.000 US-Dollar Schadenersatz eine Summe von rund 33.000 US-Dollar.
Gedenken: Die Berliner Friedenskoordination organisiert am heutigen Samstag um 14 Uhr eine Kundgebung am Pariser Platz in Berlin, um 19 Uhr findet eine Messe in der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg statt. GOR
"Die Soldaten haben in Afghanistan keine Rechtssicherheit darüber, wann sie schießen dürfen, ob nur zur Verteidigung oder auch vorbeugend", meint F. "Oberst Klein hat klargestellt: Man muss vorbeugen." Wenn Klein verurteilt worden wäre, ist sich F. sicher, hätte es tief greifende Veränderungen der Einstellung der Soldaten gegeben. Denn sie müssten wissen, dass sie sich wehren dürften.
F. meint, die Öffentlichkeit werde seither immer noch nicht ausreichend informiert. "Es wird sehr nüchtern berichtet. Aber was dort passiert, ist nicht nüchtern." Immerhin würden die Medien seither auch über kleinere Gefechte berichten, manchmal zumindest.
"Uns ist immer gesagt worden, es sei ein humanitärer Einsatz, wo es darum geht, den Menschen zu helfen: Brunnen bohren, Brücken bauen", sagt F. Vor Ort habe sich das ganz anders dargestellt. "Man dachte vorher immer, das ist ein Guerillakrieg und die laufen in Lumpen rum", sagt er, "aber das waren richtig gut ausgeführte militärische Angriffe."
Ob die Soldaten seit dem Einsatz ängstlicher geworden sind? "Nein!", sagt F. energisch.
Wolfgang Börnsen hält einen Moment inne, als er über das Bombardement von Kundus redet. "Mehr als erschüttert" war er, als er davon gehört hatte. "Kein Ereignis hat die Öffentlichkeit so beeinflusst wie dieses", sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete, "dieser Tag hat der Öffentlichkeit in aller Deutlichkeit die Auswirkungen des Einsatzes vor Augen geführt.
Börnsens Partei unterstützt den Einsatz in Afghanistan mehrheitlich. Und sie hat keine grundsätzlichen Probleme mit militärischen Interventionen. Börnsen war schon lange vorher ein Gegner des Einsatzes. Seit Kundus fühlt er sich bestätigt: "Die Notwendigkeit des baldigen Rückzuges aus Afghanistan ist vielen hierdurch klar geworden."
Und damit stehe er nicht allein. "Quer durch die Fraktionen hat die Debatte eine neue Qualität bekommen", sagt Börnsen, "viele haben ihre Einstellung geändert." Er bemängelt, dass in den Folgemonaten auch im Untersuchungsausschuss "viel zu sehr über die Reputation von Personen" gesprochen worden sei. "Stattdessen hätten wir uns fragen sollen: Ist Krieg allgemein das richtige Mittel? Was ist die Wirkung eines Krieges gegen Terroristen?"
Eine Beobachtung ist für Börnsen im Laufe des vergangenen Jahres deutlich geworden: "Die Sensibilität und Bereitschaft zu neuen Einsätzen ist zurückgegangen", so Börnsen, "wir sollten dreimal überlegen, ob sich Deutschland an einem solchen Einsatz beteiligt oder ob es nicht politische Lösungen gibt."
Seit Kundus, sagt Angela Lenzen, ist das Thema Afghanistan für sie unerträglich geworden: "Seit bei dem Angriff so viele Zivilisten starben, steht für mich fest: Die Bundeswehr muss raus aus Afghanistan, so schnell wie möglich."
Immer wenn sie im Fernsehen Bilder aus Afghanistan sieht, wenn sie Nachrichten dazu in der Zeitung liest und im Radio hört, zuckt sie zusammen und denkt: Um ein Haar wäre mein Sohn dabei gewesen.
Der ist heute 23 Jahre alt, er war vier Jahre bei der Bundeswehr, bei den Gebirgsjägern. Die Elitetruppe wird regelmäßig für einige Monate in Afghanistan eingesetzt, seine ehemaligen Kameraden waren alle dort. Es hätte auch ihren Sohn treffen können.
Doch vor kurzem hat er seinen Dienst bei der Bundeswehr quittiert. Weil er Vater wurde. "Ich habe nie verstanden, dass mein Sohn nach Afghanistan wollte", sagt Lenzen. Ihr Mann war Wehrdienstverweigerer. Und auch die Krankenschwester hat ihrem Sohn zu Genüge erklärt, was Afghanistan bedeutet. Dass die zurückkehrenden Soldaten traumatisiert sind, manche bis an ihr Lebensende.
"Aber das alles wollte mein Sohn nicht hören", sagt die Frau aus Niederkassel im Rheinland. Er hat, glaubt seine Mutter, in einem Afghanistaneinsatz ein Abenteuer gesehen: "Wer hört als junger Mensch schon auf die Warnungen seiner Eltern?"
Als der Sohn sagte, dass er aufhört bei der Bundeswehr, fiel Angela Lenzen "eine ganze Steinmauer vom Herzen", wie sie sagt. Das Bangen um den Sohn hatte nun ein Ende.
Seit dem 4. September 2009, sagt Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung, "liegt eine Art Mehltau über dem Thema Afghanistan". Melancholie habe sich im Land ausgebreitet. "In der Bevölkerung entwickelt sich der Eindruck: Alles war umsonst."
Seit dem folgenschweren Bombardement von Kundus wisse die Bevölkerung, wohin Afghanistan steuere. "Die ohnehin vorhandene Skepsis ist bestätigt worden", sagt Naumann. Bis in die politischen Ebenen im Verteidigungsministerium hinauf sei die Verunsicherung gestiegen. "Dieser Luftschlag steht sinnbildlich für den gesamten Einsatz."
Auch die Informationsstrategie der Politik kritisiert Naumann. "Der Begründungszwang besteht bei steigender Ablehnung umso mehr", sagt er, "die Politik darf in Zukunft nicht mehr so blauäugig Solidarität versprechen, wie dies in Afghanistan der Fall war."
Laut Umfragen gibt es zwar eine Akzeptanz für Interventionen, die etwa darauf ausgerichtet sind, Geiseln zu befreien - oder sogar Diktatoren militärisch zu bekämpfen. "Aber Einsätze, die geografisch fern, lange andauernd oder ohne klares Ergebnis stattfinden, wollen die Leute nicht", sagt Naumann. Ebendeshalb schwinde die Legitimation besonders seit den verheerenden Morgenstunden von Kundus weiter.
Eigentlich, sagt Naumann, habe sich Deutschland ja aus politischen Gründen gerade den verhältnismäßig ruhigen Norden Afghanistan als Operationsgebiet ausgesucht. Doch in der Bevölkerung habe sich, besonders nach dem Luftschlag von Kundus, ein entgegengesetzter Effekt eingestellt.
"Mittlerweile sagt die Stimmung in der Bevölkerung: Nie wieder Afghanistan", so Naumann.
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