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Ein Historiker der Gegenwart

Für Ulrich Wehler ist Michel Foucault lediglich ein „kryptonormativistischer Rattenfänger für die Postmoderne“. Ulrich Brieler hingegen schätzt, trotz der Gegenwartsbezogenheit der Foucaultschen Forschung, deren historischen Materialwert  ■   Von René Aguigah

„Foucault ist der vollendete Historiker“, schwärmte Paul Veyne vor zwanzig Jahren. Sein Kollege, der Historiker Jacques Léonard, rümpfte dagegen die Nase: Michel Foucault plündere die Jahrhunderte wie ein „Kosake der Geschichte“. Aber beide, Veyne und Léonard, nutzten die Anregungen des Philosophen – genauso wie lange vorher Philippe Ariès und Fernand Braudel, die Exponenten der einflußreichen Annales-Schule. Nicht nur die Geschichte, auch benachbarte Fächer – wie die Literaturwissenschaft oder die Politische Theorie – haben von Foucault profitiert. Ohne die Theoriespenden von Foucault und anderen französischen Denkern seien die Kulturwissenschaften heute undenkbar, schrieb die Süddeutsche Zeitung kürzlich. „Und nichts von dem, was in den letzten zwanzig Jahren innovativ gedacht worden ist, kam ohne sie aus.“

Ein globales Urteil, nur: Die deutsche Geschichtswissenschaft kann damit nicht gemeint sein. Denn anders als in den Nachbardisziplinen, anders als bei französischen Historikern herrscht in den gut isolierten Stuben deutscher Geschichtsprofessoren Schweigen zu Foucault. Sicher, wer genau hinsieht, findet jene Ausnahmen, die das geregelte Schweigen bestätigen: Foucaults Themen – etwa Körper, Psychiatrie, Medizin – sind an den Rändern des Faches zu Forschungsgegenständen geworden. Es sind vielmehr die theoretischen Konzepte, die auf „allgemeine Rezeptionsverweigerung“ (Detlev Peukert) stoßen. Weder Foucaults Analytik der Macht noch seine Fragen nach dem Subjekt, weder einzelne Äußerungen zur Geschichte noch gar sein Projekt einer „historischen Ontologie unserer selbst“ weckten das Interesse deutscher Historiker.

Dabei hat Foucault ausdrücklich Anspruch auf das Feld des Vergangenen erhoben. „Ich schreibe nichts als Geschichte“, bemerkte er einmal lakonisch. Was, wenn an dieser Selbstinterpretation und an der Neugier der französischen Historiker etwas dran ist? Die Frage hat sich wohl auch Hans-Ulrich Wehler gestellt. Wehler hat in den 60er und 70er Jahren die historische Sozialwissenschaft etabliert. Heute steht er als Meinungsführer unter Rechtfertigungsdruck und nimmt in seiner jüngsten Aufsatzsammlung die „Herausforderung der Kulturgeschichte“ an; der längste Essay darin behandelt Foucault. „Zweimal“, stöhnt Wehler, habe er sich der „Lektüre aller ins Deutsche übersetzten Veröffentlichungen Foucaults ausgesetzt“, und erklärt hernach: „[W]egen seines undifferenzierten Machtbegriffs, wegen der Verweigerung diskussionsfähiger normativer Auskünfte, wegen der systematischen und historischen Defizite seiner Diagnose der Disziplinargesellschaft (...) ist Foucault ein intellektuell unredlicher, empirisch absolut unzuverlässiger, kryptonormativistischer Rattenfänger für die Postmoderne.“

Wie konnte das passieren? Wehler hat sich zunächst auf die These von der „Disziplinargesellschaft“ gestürzt. Sein Foucault argumentiert etwa so: Die „archetypischen Institutionen der Disziplinierung“ – etwa Gefängnisse oder Psychiatrien – legten sich wie Metastasen über die Gesellschaft. Ein Ausweg aus der „Kolonialisierung der gesamten menschlichen Lebenswelt“? Nicht zu sehen. Denn wenn Foucault Geschichte schreibe, dann sei sie stets geprägt vom „Fundamentalismus seiner gradlinigen Repressionsgeschichte“. Wehler bezieht sich hier wohl auf „Überwachen und Strafen“ (1975): Das Buch, das zeigt, wie das 19. Jahrhundert eine feine Infrastruktur ausbaut, um Disziplinen durchzusetzen – Prüfungen in der Schule oder halb hohe Türen auf den Toiletten. Aber die eigentliche Pointe geht Wehler verloren: Diese Macht wirkt produktiv, sie katalysiert das gesellschaftlich Erwünschte. Sie spornt an und schaltet aus – jedenfalls ist sie nicht an sich schlecht. „Sobald es ein Machtverhältnis gibt, gibt es eine Widerstandsmöglichkeit“, hat Foucault einmal gesagt. Und dennoch reproduziert Wehler die Phrase von Foucaults vermeintlicher „reduktionistischen Vorstellung einseitiger Zwangsherrschaft“. Dabei ist es gerade die These von der ewigen Repression (etwa: „Sex wird unterdrückt!“), der Foucaults Skepsis gilt. Seine Analyse in „Der Wille zum Wissen“ (1976) verschiebt den Fokus: Nicht Zensur der Rede oder Verbot der Praktiken stehen im Mittelpunkt, sondern Geständnisprozeduren, an deren Ende die Produktion von Wahrheit steht. Und die Relevanz dieser „endlose(n) Mühle des Wortes“ haben wohl spätestens Kenneth Starr und Monica Lewinsky, Jürgen Fliege und Bärbel Schäfer demonstriert.

Wehlers Foucault „raunt“ und „wittert“, ist „besessen“ von einer Idee und voller „Süchtigkeit (...) nach Identitätswechsel“. Um Foucaults theoretische Kritik am Konzept der Identität zu illustrieren, steckt der Bielefelder Professor die Nase in die schmutzige Unterwäsche des Biographischen: Selbstmordversuch, Drogenkonsum, SM-Praktiken, ja selbst für die Kolportage, Foucault habe sich Anfang der 80er Jahre möglicherweise bewußt mit Aids infiziert, ist sich Wehler nicht zu schade. – All das, um ihm hinterherzurufen: „Die Konzentration auf die Sache (...) geht Foucault (...) ab.“ Erstaunlich, daß Foucaults Texte ein derartiges Ressentiment hervorrufen. Im Fall Foucault könnte – nach dem langen Schweigen und dem blinden Furor – ein wenig Nüchternheit helfen.

Rückkehr zu den Texten verspricht eine Studie, die der Leipziger Geschichtstheoretiker Ulrich Brieler vorgelegt hat. Brieler, Jahrgang 1955, will die „Unerbittlichkeit der Historizität“ bei Foucault zeigen, und das heißt zuerst: Er beharrt auf dem historischen Materialwert der Foucaultschen Arbeiten. Und die haben zunächst einen ähnlichen Gegner wie Wehlers historische Sozialwissenschaft: die Geschichten der großen Individuen und Ideen.

Foucault bastelt allerdings keine neue Einheit namens „Gesellschaft“ aus Bausteinen wie Wirtschaft, sozialer Ungleichheit und Politik, sondern er setzt weiter unten an. Er spürt disparate Diskurse und Praktiken auf, die sich um ein Problem ranken – handschriftliche Klagen absolutistischer Gefangener, Traktate liberaler Rechtsphilosophen oder ein zu Architektur geronnenes Machtverhältnis. So verfolgt er die Herkunft seiner historischen Gegenstände – Wahnsinn, Gefängnis, Sexualität, ja noch die Seele versieht Foucault mit einem Geburtsdatum. Brieler dekliniert das für jede Monographie durch und schält die feinen Unterschiede heraus. Etwa Foucaults verschiedene Haltungen zum Subjekt: die Abwesenheit einer Subjektproblematik in den Schriften, die primär auf die Analyse transsubjektiver Strukturen zielen; die Auflösung und Konstituierung der Subjektivität in Machtstrukturen; die Techniken, die das individuelle Selbst formen. Aber Brieler bündelt auch, was allen Positionen gemeinsam ist: ein grundlegender Antiessentialismus, der sich weigert, dem Menschen ein invariantes Wesen zu unterstellen. Brielers Hinweis auf die Historizität ist nicht ganz neu. Aber er wendet diesen Gedanken doppelt an: Er liest die historischen Studien in ihren historischen Entstehungskontexten. Foucaults Denken, so die These, ist eng verstrickt mit seiner jeweiligen Gegenwart. Das leuchtet besonders ein für die Phase um den Pariser Mai 68.

Um 1970 erhält Foucaults Arbeit eine neue Dimension. Politische und wissenschaftliche Praxis verbünden sich: Er engagiert sich für Häftlinge und untersucht die Entstehung des Gefängnisses. Brieler konfrontiert die großen Texte der 70er Jahre mit Foucaults Interviews oder politischen Pamphleten und zeigt, daß dieser nicht mehr nur Professoren, sondern auch Gefangene zu seinen Adressaten zählt. Nach den Mai-Ereignissen entfahren Foucault Vokabeln wie „klassenlose Gesellschaft“, er erklärt seine Bücher zu Molotowcocktails und sich selbst zum Waffenschmied – kurz: Foucault lokalisiert seine Macht-Analytik im brodelnden Zeitgeist der frühen 70er Jahre. Auch den Grund für Foucaults zweite Umorientierung findet Brieler in der sozialen Realität: Die Zeit der Waffenschmiede war Mitte des Jahrzehnts vorbei. Darin bestand die „Sackgasse“ (Gilles Deleuze), in der sich Foucault nach dem ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“ befand, so Brieler. Erst weil der revolutionäre Rezeptionsboden, auf den Foucault gebaut hatte, wegbrach, konnte er sich allmählich den Techniken der Selbst-Formung zuwenden. Brieler schreibt eine ausladende Denk-Geschichte Foucaults und wählt damit eine andere Form als Hans-Ulrich Wehler. Dessen Essay braucht Polemik, aber dabei bleibt er nicht, sondern er verheddert sich in jener ausgrenzenden „Sprache des Unbedingten“ (Ute Daniel). Einer Disziplin, die immer noch ein Problem damit hat, unterschiedliche theoretische Konzepte auf dem Weg zu historischer Erkenntnis zu akzeptieren. „Im Denken Foucaults ist eine Theorie, die den Namen Foucault trägt, letztlich eine theoretische Unmöglichkeit“, schreibt Brieler – und lenkt damit den Blick auf die letzte Konsequenz der Historizität: Foucault wendet ihre Gültigkeit noch gegen sich selbst an. Wenn es in seiner Methode eine Konstante gibt, dann die: Foucault folgt dem Primat des Induktiven, freilich nicht ohne das Instrumentarium zu reflektieren. Seine Methode schmiegt sich immer neu dem historischen Gegenstand an, weil sie um dessen kontingente Einzigartigkeit weiß. Oder, im emphatischen Jargon der 70er Jahre: Foucault weiß, daß Bücher nach Gebrauch verkohlen wie Feuerwerke. Und das ist doch Geschichte ohne Ende. Ulrich Brieler: „Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker“. Böhlau Verlag 1998, 664 Seiten, 118 DM Hans-Ulrich Wehler: „Die Herausforderung der Kulturgeschichte“. Beck'sche Verlagsanstalt 1998, 160 Seiten, 19,80 DM

Foucaults Methode schmiegt sich immer neu dem historischen Gegenstand an, weil sie um dessen kontingente Einzigartigkeit weiß

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