■ Das deutsche Steueraufkommen: Prognose und Realität: Ein Haushalt voller Luftbuchungen
Ökonomie ist als trocken und langweilig verschrien. Doch die Haushalts-, Steuer- und Finanzpolitik beweist seit ein paar Jahren das glatte Gegenteil: hektische Betriebsamkeit und Aufregung auf allen Seiten. Neuester Anlaß, das Chaos in der Finanzpolitik zu beschwören, ist die revidierte Steuerprognose für 1995 und 1996 vom „Arbeitskreis Steuerschätzung“.
Nach der jüngsten Schätzung müssen die Annahmen um 55 Milliarden Mark nach unten korrigiert werden. Der größere Teil dieser Steuerausfälle entfällt auf Länder und Gemeinden.
Trotz dieser negativen Entwicklung sieht der Bundesfinanzminister bisher keinen Anlaß, seinen Konsolidierungskurs anders als erfolgreich einzuschätzen. Zugleich hat er jedoch eine Haushaltssperre verfügt. Kritik erntet er von seiten der Opposition ebenso wie aus den eigenen Reihen: Schon der jetzige Entwurf bestehe zu einem erheblichen Teil aus bloßen Luftbuchungen. Die Revision der Steuerschätzungen gilt als weitere Bestätigung. Es drohen weitere Mindereinnahmen aus dem Jahressteuergesetz, die Privatisierungserlöse bei der Lufthansa stehen auf schwankender rechtlicher Grundlage, die beabsichtigte Kürzung der Arbeitslosenhilfe ist gegen SPD und Grüne so nicht durchsetzbar, ein Verlustausgleich für die Landwirtschaft wird angemahnt, und die Bundesanstalt für Arbeit ist wegen der steigenden Arbeitslosigkeit wieder auf Zuschüsse angewiesen.
Für Helmut Kohl kein Problem: „Seit 1983 höre ich die gleichen Untergangsszenarien von Ihrer Seite, und Jahr für Jahr haben wir die Dinge in Ordnung gebracht.“
Seine Regierung wird auch 55 Milliarden Mark Mindereinnahmen überleben, zumal Länder und Gemeinden von den Steuerausfällen stärker betroffen sind. Doch die Ursachen werden sich nicht durch gegenseitige Schuldzuweisungen klären. Zum einen ist von der stockenden Konjunktur die Rede:
– Das wirtschaftliche Wachstum ist niedriger als erwartet ausgefallen. Die international bestimmten Zinsen und Wechselkurse haben dazu wesentlich beigetragen.
– Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit, die seit Ende letzten Jahres wieder ansteigt, ist falsch eingeschätzt worden: Wer „jobless growth“ zur Ideologie erklärt, um Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, muß auch die Kehrseite in Kauf nehmen.
– Steigende Einkommen sollten über den privaten Verbrauch Mehrwertsteuer in die öffentlichen Kassen spülen. Aber man kann die Kuh nur einmal melken: Durch den Solidaritätszuschlag, Abgaben und kommunale Gebührenerhöhungen sank die Kaufbereitschaft.
Dann gibt es steuersystematische Gründe:
– Unternehmen werden nicht wie ArbeitnehmerInnen sofort zur Kasse gebeten. Die Einnahmen aus der Körperschaftssteuer hinken deshalb der realen wirtschaftlichen Entwicklung hinterher, und in diesem Jahr wirkt noch die Rezession von 1993 nach.
– Offizielle Steuerschätzungen müssen auf den bestehenden Rechtsgrundlagen vorgenommen werden. Die ändern sich aber laufend. Vor zwei Jahren legte das Münchener Konjunkturforschungsinstitut Ifo eine um 10 Milliarden Mark abweichende Steuerschätzung vor. So ein Betrag würde reichen, um den Stadtstaat Bremen ein zweites Mal zu sanieren. Das Ifo-Institut wies darauf hin, daß in den Jahren von 1993 bis 1997 in der Bundesrepublik nicht weniger als 481 Milliarden Mark aufkommenserhöhende und 255 Milliarden Mark aufkommensmindernde Wirkungen von Steuerrechtsänderungen berücksichtigt werden mußten. Schon ein kleiner Fehler zieht da große Folgen nach sich. Gegenwärtig hat man vor allem die Belastung durch das Jahressteuergesetz zu niedrig gesehen.
– Schließlich fiel die Inanspruchnahme der steuerlichen Erleichterungen für den Aufbau Ost allem Anschein nach so hoch aus, daß bei der veranlagten Einkommensteuer bis August statt 12 Milliarden Mark Einnahmen nur 170 Millionen Mark Ausgaben für Ausgleichszahlungen entstanden. Hat die Regierung gar nicht mit dem Erfolg ihrer eigenen Politik gerechnet?
Die Haushalts-, Steuer- und Finanzpolitik steckt damit in einem Dilemma: Wenn die schlechte wirtschaftliche Lage die Ursache ist, wird der Abschwung durch einen verschärften Konsolidierungskurs beschleunigt; verlangsamt man die Sparpolitik, stellt man die erreichten eigenen Ziele in Frage. Das will die Regierung auch nicht – gerade nach dem großen Lob von seiten der OECD für die Einhaltung der Maastricht-Kriterien.
Die Situation ist nicht untypisch: wirtschafts- und finanzpolitische Erfolge werden inzwischen generell nur durch ökonomische Gratwanderungen zwischen verschiedenen Maßnahmen erzielt. Es muß doch zu denken geben, wenn ein renommiertes Konjunkturforschungsinstitut wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Aussage trifft: „Die wirtschaftliche Entwicklung dieses Jahres gibt Rätsel auf. [...] Evident ist, daß weder die staatliche Nachfragepolitik noch die staatliche Angebotspolitik Rezessionen und das Entstehen von Arbeitslosigkeit haben verhindern können.“
Es ist wahr: Diese Regierung predigt und praktiziert Angebotspolitik, hat aber zugleich das größte Nachfrageprogramm der deutschen Nachkriegsgeschichte – unter dem Titel: „deutsche Vereinigung“ – aufgelegt. Das erklärt auch ein wenig den Streit um moderne sozialdemokratische oder grüne Wirtschaftspolitik. Die Unterschiede verwischen sich: Niemand ist mehr der Meinung, daß ein Weg an der Haushaltskonsolidierung vorbeiführt. Niemand glaubt heute noch, daß die Verschuldung weiter steigen darf. Erhebliche Differenzen bleiben natürlich bei der Frage, wie schnell oder wie sozial der Prozeß gestaltet wird. Dabei verheddert sich die Regierung, aber auch die Opposition in Widersprüche. Finanzpolitiker der Koalition wollen alles über den radikalen Abbau des Sozialstaates lösen, müssen aber die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umsetzen und kommen an der Arbeitslosigkeit nicht vorbei. Sozialpolitiker der Opposition wollen vieles beim alten belassen und über die Steuern finanzieren. Bonns Opposition schwankt zwischen sozial und ökologisch begründeter Kritik am Haushalt – deren konstruktive Wendung Geld kostet – und dem Vorwurf, Geld sei weder da noch zu erwarten. Zudem mangele es dieser Regierung einfach an Seriosität. Bürger und Bürgerin bleiben da nur verwirrt zurück.
Vielleicht haben die fehlenden Einnahmen ja ein Gutes: Die Bereitschaft, Ökosteuern zu beschließen, wächst unter dem finanziellen Druck. Dazu muß aber ein kompromißfähiges Modell her. Angelina Sörgel
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