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Ein Film zieht vorbei

■ Jeanine Meerapfels „Amigomio“ zeigt eine Reise quer durch den südamerikanischen Kontinent

Argentinien in den 70ern, Militärdiktatur. Eine Frau ist verschwunden, wahrscheinlich ist sie verhaftet worden. Ihr Mann Carlos, getrennt von ihr lebend, arbeitsloser Akademiker und von dem Schauspieler Daniel Kuzniecka mit ein wenig linkischen Gesten versehen, nimmt den Sohn, Amigomio genannt, an die Hand und flüchtet. Flüchtet aus seiner Heimat. Flüchtet, obwohl er richtig ernsthaft gar nicht verfolgt wird, einmal quer über den südamerikanischen Kontinent, von Argentinien über Bolivien und Peru. Flüchtet schließlich in seine neue Heimat Equador. Soviel zur Handlung.

„In Amigomio geht es weniger um Heimat als um Heimatlosigkeit. Es ist eine Parabel über Entwurzelung, über die Sehnsucht, die einem die Augen und Ohren öffnet“ (Jeanine Meerapfel in der taz vom 1. Juni). Soviel zur Deutung.

Und jetzt reden wir über die südamerikanische Landschaft. Bis auf 4000 Meter über Meereshöhe schrauben sich die Anden bei dem uralten Ort Potosi, wo die spanischen Eroberer Silber aus dem Berg gruben. In dieser Höhe ist die Luft dünn und die Landschaft wüst und leer, karg und feindlich. Die Kamera streift manchmal wie ehrfürchtig über die grandiosen Gebirgsszenerien hin, und wenn Carlos nicht im Vordergrund so verloren aussehen würde, die Bilder würden mit der Weite, die sich hinter ihm öffnet, prunken wie ein Reiseprospekt. Dann durchfahren wir unendliche Ebenen, später finden wir uns im Dschungel wieder. Und einmal brennt der Himmel. Das ist der Moment zwischen Nacht und Tag, an dem die Sonne schon gleißend die immer noch nachtschwarzen Wolken durchstößt.

Die Landschaft spielt in Jeanine Meerapfels Film Amigomio eine weitere, streckenweise sogar die Hauptrolle. Dies vor allem in der Mitte des Films, als der Mann und sein Sohn ihre alte Heimat verlassen, ihre neue Heimat noch nicht gefunden haben. In der überfüllten Bahn, im noch überfüllteren Bus geht es durch die Lande, dabei kommt es zu Begegnungen mit der Landbevölkerung, mit Guerillas und einem predigenden Gringo, die allmählich ins Surreale spielen. Franz Kafka hat das Gefühl der Desorientierung, das sich bald bei Carlos und zunehmend auch beim Betrachter einstellt, wenn sie aus den gewohnten Lebensbahnen und dementsprechend aus den gewohnten Sehbahnen geworfen werden, als „Seekrankheit auf dem Lande“ beschrieben. Der Film faßt es als Höhenkrankheit, die Carlos in Portosi befällt. Ihm wird schwindelig, eine Zeitlang verwirrt sich in den Szenen der Wirklichkeitsbezug, so plätschert es dahin – und die Landschaft spielt dazu Fanfare.

Una pericula pasa – Ein Film zieht vorbei. Nicht immer hat er die Kraft, uns mitzunehmen. Und doch kann man an einigen Stellen dabei zusehen, wie sie Augen und Ohren öffnen, die Entwurzelung und die daraus resultierende Sehnsucht. Mitreisen durch diese Landschaft will man sowieso.

Dirk Knipphals

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