■ Philippe Séguin, Chef der Neogaullisten, ist zurückgetreten: Ein Deserteur?
Mitten im Krieg und mitten im Wahlkampf hat Philippe Séguin – zugleich Chef der neogaullistischen RPR und Spitzenkandidat bei den Europawahlen – aufgegeben. Am Freitag trat er von seinen Ämtern zurück. Angeblich völlig überraschend. Séguins Begründung: Sein Parteifreund Jacques Chirac, zugleich RPR-Gründer, Staatschef und oberster Kriegsherr Frankreichs, habe ihn im Stich gelassen.
Ist Séguin ein Deserteur? Tatsächlich war er, der Chirac seit Jahrzehnten unterstützt hatte, binnen weniger Monate zum politischen Fossil geworden. Und das vor allem, weil er bis heute die Gründungsideen der GaullistInnen vertritt: eine populäre Bewegung und ein starker Staat als Voraussetzungen der französischen Souveränität. Diesen gaullistischen Ideen verpflichtet, machte Séguin 1992 Kampagne für ein „Non“ bei dem Referendum über die Maastrichter Verträge. Deshalb wehrte er sich gegen Neoliberalismus und unkontrollierte Globalisierung. Deshalb soufflierte er Chirac bei dessen Präsidentschaftswahlkampf die Verteidigung des Sozialstaats. Und deshalb unterstützt er auch nicht den Krieg, der unter dem Oberkommando der USA stattfindet.
Seit Chirac Staatspräsident ist und dem klassischen Gaullismus den Rücken gekehrt hat, sind diese Überzeugungen vollends ins Abseits geraten – selbst innerhalb der RPR, wo der Mythos de Gaulles die Verteidigung der Ideen de Gaulles ersetzt hat. Parteichef Séguin steckte eine Niederlage nach der anderen ein. Zuletzt mußte er hinnehmen, daß seine Partei für die Europawahlen eine gemeinsame Liste mit ihren „ultraliberalen“ konservativen KonkurrentInnen von der Démocratie Libérale (DL) bildete. Daß Chirac diese RPR/DL-Liste gegenüber den beiden anderen konservativen Kandidaturen (für und gegen Maastricht-Europa) nur halbherzig unterstützte. Und daß Frankreich jetzt auch Krieg gegen Serbien führt.
Vordergründig betrachtet ist mit Séguins Rücktritt das Chaos bei den Neogaullisten wieder einmal perfekt. Die RPR, die vor vier Jahren zwei konkurrierende Kandidaten aus der eigenen Partei (Chirac und Balladur) in das Rennen um die Staatspräsidentschaft schickte, schafft es dieses Mal, acht Wochen vor den Europawahlen, kopf- und kandidatenlos zu sein. Dennoch löst der Rücktritt vor allem Erleichterung bei den NeogaullistInnen aus. Sie wollen die Gelegenheit nutzen, um jetzt doch noch eine einzige, einheitliche konservative Liste mit einer klaren politischen Linie zusammenzuschustern. Die soll pro-europäisch, wirtschaftsliberal und zentristisch sein. Dafür hat Séguin den Platz geräumt. Der historische Gaullismus ist seinem Ende nähergekommen. Dorothea Hahn
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