: Ein Deal im Interesse Rußlands
Volksdeputiertenkongreß stimmte knapp für einen Waffenstillstand mit Jelzin/ Referendum über die Verfassung im April/ Gaidar erneut als Regierungschef im Rennen ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Hardliner des rechtsnationalistischen Spektrums im russischen Volksdeputiertenkongreß schäumten vor Wut, als am Samstag abend der Kompromiß bekannt wurde, auf den sich Ruslan Chasbulatow, Vorsitzender des Parlamentes, und Präsident Boris Jelzin nach zähen Verhandlungen geeinigt hatten. Die Gespräche vermittelt hatte Valerie Sorkin, oberster Verfassungsrichter Rußlands und der eigentliche Gewinner der „konstitutionellen Krise“ der letzten Tage. In altbekannter Manier paukte Chasbulatow den Vorschlag ohne Erörterung durchs Parlament. 541 Deputierte votierten dafür, 98 stimmten dagegen. Der Großteil der 1.040 Parlamentarier hatte aus Protest an der Wahl nicht teilgenommen. Daher fehlten nur knappe zwanzig Stimmen, um auch diesen Kompromiß scheitern zu lassen.
Mit der erzwungenen Verständigung werden die Vorstöße der letzten Tage revidiert. Jelzin verzichtet auf das Referendum, das über das Schicksal des anachronistischen Parlamentes entscheiden sollte. Im Gegenzug läßt die Legislative ihre Resolution fallen, die Neuwahlen des Präsidenten forderte. Verfassungsänderungen, die der Kongreß in aller Eile dem Gesetz über Referenda seit dem Tohuwabohu am Donnerstag hinzugefügt hatte, um sein Überleben zu retten, werden ebenfalls hinfällig. Der Oberste Sowjet verpflichtet sich, keine Gesetze zu novellieren, die das gegenwärtige Gleichgewicht der Gewalten verschiebt.
Ein Referendum wird dennoch stattfinden. Am 11.April soll Rußland über die Grundzüge einer neuen Verfassung entscheiden. Präsident, Verfassungsgericht und der Oberste Sowjet werden den Text des Referendums ausarbeiten. Der Präsident erhält das Recht, dem Referendum eine eigene Frage hinzuzufügen, sollte er mit dem Text nicht übereinstimmen. Die konservative Legislative, die zunehmend nach der Macht greift, behält ein Vetorecht bei der Besetzung der vier Schlüsselministerien Inneres, Sicherheit, Verteidigung und Äußeres. Seit Monaten kämpfen Nationalisten und Erzreaktionäre um den Rücktritt Außenminister Kozyrews, dem sie Kniefälligkeit gegenüber dem Westen und Rußlands Ausverkauf vorhalten.
Der Kompromiß vermittelt den Eindruck, als sei Jelzin erneut Sieger im verwirrenden Gezerre um die Macht. Denn heute wird er seinen Kandidaten für den Posten des Regierungschefs vorstellen. Drei Anwärter gehen vermutlich ins Rennen, keiner mit Aussichten auf die absolute Mehrheit. Einer von ihnen wird Jegor Gaidar sein, den das Parlament vergangene Woche mit knapper Mehrheit abgelehnt hatte. Erhält keiner die erforderliche Stimmenzahl, wird Jelzin Gaidar bis April zu seinem amtierenden Ministerpräsidenten machen, so, wie er es schon immer vorhatte.
Dafür mußte er seinen langjährigen Vertrauten, den ehemaligen Marxismus-Leninismus-Dozenten, Gennadij Burbulis, ein weiteres Mal degradieren und aus seinem Beraterstab entfernen. Jelzin hatte anscheinend seinen Angriff auf die Altparlamentarier mit seiner Regierungsmannschaft tatsächlich nicht abgesprochen. Der Präsident, so verlautete aus seinem engeren Umkreis, hätte zuviel weggesteckt in den letzten Wochen, zu viele seiner Vertrauten vor den Kopf stoßen müssen. Es sei ihm eine moralische Pflicht gewesen, hieß es unter Anspielung auf das zuvor von Jelzin vorgeschlagene Referendum. Nicht gerade gut überlegt, aber dennoch hat es Jelzin eine Runde weiter geschafft.
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