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■ Hat der Sozialstaat eine Zukunft? (2) Wir brauchen einen Konsens über die neue Geschäftsgrundlage des SozialstaatesEin Boot in schwerer See

Der Sozialstaat dümpelt, einem leckgeschlagenen Boot gleich, in schwerer See. „Alles nicht Notwendige über Bord werfen!“ rufen die einen. „Das Gewicht besser verteilen!“ verlangen die anderen. Allemal besser wäre es, das Leck unterhalb der Wasserlinie zu stopfen. Doch auf dem Boot ist das Dichtungsmaterial ausgegangen, und die geeigneten Werkzeuge sind stumpf geworden.

Das bedrohliche „Leck“ des deutschen Sozialstaats ist die andauernde und steigende Arbeitslosigkeit. Andere Sozialstaatsboote sind zum Teil noch stärker leckgeschlagen, aber es lindert nicht die eigene Not, wenn auch anderswo die Aussicht auf Vollbeschäftigung in weite Ferne gerückt ist. Für einen so stark lohnarbeitszentriertes soziales Sicherungssystem wie das der Bundesrepublik, wo die Finanzierung wie die Leistungen ganz wesentlich vom Beschäftigungsvolumen abhängen – zwei Drittel des Sozialbudgets beziehungsweise rund 40 Prozent der gesamten Staatsausgaben sind durch die Sozialversicherungen bedingt –, ist Massenarbeitslosigkeit besonders fatal: Denn wenn sich Beitragsbasis und Leistungsausgaben gegenläufig entwickeln, muß der Faktor Arbeit zunehmend belastet werden. Das wirkt sich negativ auf die Nettoeinkommen der Beschäftigten und, wegen steigender Arbeitgeberbeiträge, auch auf die Nachfrage nach Arbeitskräften aus, wenn die Unternehmen deshalb stärker rationalisieren, Produktionen ins Ausland verlagern usw.

Es dürfte kaum übertrieben sein, derzeit ein Defizit an Arbeitsplätzen von etwa sieben Millionen zu unterstellen. Um zu einem Vollbeschäftigungszustand wie zu Beginn der siebziger Jahre zurückzukehren, müßte also die Beschäftigung um rund 20 Prozent wachsen. Ein ökonomisch und politisch realisierbares (und ökologisch vertretbares) beschäftigungspolitisches Rezept ist nicht vorstellbar, das diese Steigerung in naher Zukunft zustande bringt. Möglicherweise könnte durch ein Bündel von Politiken das Defizit ein wenig verringert werden, aber weitergehende Hoffnungen sind illusionär.

Ein substantieller „Sozialstaatsabbau“ hat bislang nicht stattgefunden. Sein „Kern“ blieb – wie in anderen Ländern auch – unangetastet. Gewiß, es wurde an den „Rändern“ gekürzt, zum Beispiel bei den Zugangsvoraussetzungen zu Leistungen der Arbeitslosenversicherung und deren Niveau, der Sozialhilfe oder durch die Erweiterung der Zuzahlungsregelungen in der Krankenversicherung. An tragende Elemente der „Bootskonstruktion“ hat man sich aus guten Gründen noch nicht vergriffen. Das ist nicht allein der Furcht der Volksparteien vor den Reaktionen der „Arbeitsplatzbesitzer“ und Rentner geschuldet. Auch nicht den Hürden, einen massiven Besitzstandsabbau durch den parlamentarischen Prozeß zu bringen.

Die Besonneneren unter den Sozialstaatskritikern wissen, daß die Sozialpolitik nicht nur das Boot unnötig beschwert, sondern eben auch einen wirtschaftlichen Wert hat, der sich unter anderem in gesünderen, besser qualifizierten und motivierteren Arbeitskräften und friedlicheren Sozialbeziehungen als positivem Standortfaktor niederschlägt. Diejenigen, die am lautesten nach schärferen Zumutbarkeitsregeln, Lohnabstandsgebot, Karenztagen oder untertariflicher Bezahlung rufen, könnten überrascht werden, wenn die so zur Arbeit Angehaltenen sich gerade nicht als die engagiertesten Belegschaftsmitglieder erweisen.

Seit etwa zwei Jahren sind auch die „versicherungsfremden Leistungen“ in aller Munde. Arm in Arm fordern Gewerkschaften und Arbeitgeber, Christ- und Sozialdemokraten und viele andere die Steuerfinanzierung von Leistungen, die seit langem aus Sozialversicherungsbeiträgen bestritten werden oder den Beitragszahlern nach der Vereinigung zusätzlich aufgebürdet wurden. Dadurch würden nicht nur die Selbständigen, Beamten und andere Steuerzahler gleichfalls an der Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben beteiligt, eine Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge um mehrere Prozentpunkte hätte vermutlich (und sei es nur wegen der Signalwirkung) auf die Beschäftigungsentwickung einen sichtbar positiven Einfluß.

Aber die Definition dessen, was im Einzelfall eine „versicherungsfremde Leistung“ ist, macht nur einen Teil des Problems aus. Der andere Teil besteht darin, solche Leistungen anderweitig zu finanzieren, zum Beispiel über eine Fortgeltung des Solidaritätszuschlags oder die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Und dann wäre noch die Frage, ob solche Leistungen im Bundeshaushalt genauso sicher aufgehoben wären und nicht gekappt oder gestrichen werden, wenn das Haushaltsdefizit wieder einmal bedrohlich wächst.

Wie wäre das Sozialstaatsboot in ruhigeres und seichteres Gewässer zu bringen? Zunächst einmal durch ein einvernehmliches und schonungsloses Eingeständnis, daß die Hauptursache der Misere, die Arbeitslosigkeit, auf absehbare Zeit und auch nicht mittels Bündnissen für Arbeit zu beseitigen ist. Dann wäre für eine Auseinandersetzung, wie denn der Sozialstaat auf diese Situation einzustellen ist, schon einiges erreicht. Das müßte nicht heißen, der Arbeitsmarktentwicklung freien Lauf zu lassen. Aber ein Konsens über die veränderte „Geschäftsgrundlage“ des Sozialstaats böte die Gelegenheit, sachlicher und möglicherweise auch vertrauensvoller als bisher über Finanzierungsmodelle (s.o.) und die Umgestaltung von Leistungen zu diskutieren.

Zur Zeit haben diejenigen, die ausschließlich „bewahren“ wollen, den dominierenden Protagonisten von „lean welfare“ wenig entgegenzusetzen. Eine erforderliche Anpassung im Grundsatz zu akzeptieren, würde ihre Chancen verbessern, die auch ökonomischen Vorzüge einer gemäßigten Einkommensungleichheit und einer Sicherheitsgewähr für alle Bürger herausstellen zu können.

Denn es mangelt offensichtlich nicht an einer Solidaritätskultur in der Gesellschaft und an der breiten Zustimmung der Bevölkerung zu sozialstaatlichem Handeln, sondern weit eher am Vertrauen, daß Sicherheitserwartungen bei Eintritt sozialer Risiken auch auf längere Sicht noch erfüllt werden. Man möchte wissen, was künftig an der sozialen Sicherung sicher ist und was der Preis dafür ist. Eine Annäherung der Standpunkte über die Konturen eines an neue Herausforderungen angepaßten Sozialstaates wäre geeignet, einer galoppierenden Vertrauenskrise entgegenzuwirken. Denn nichts wäre für seine Zukunft bedrohlicher, als daß die Stärkeren die Rettungsringe greifen, über Bord springen und die anderen allein rudern lassen. Karl Hinrichs

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