: Ein Alptraum für den Zensor
(Freaks, West 3, 22.45 Uhr) Der Regisseur von Freaks hieß Tod Browning und war als ehemaliger Artist mit der Zirkuswelt, die den Hintergrund für diesen Film liefert, wohlvertraut. Zu diesem Zirkus gehört im Film ein Rummelplatz mit einer „Abnormitätenschau“, in der verunstaltete Menschen ausgestellt werden. Hinter den Kulissen leben die Mißgebildeten in ihrer eigenen Welt und bilden eine solidarische Gemeinschaft. Die dem Schönheitsideal der Masse entsprechende Trapezartistin Cleopatra erscheint in dieser Welt exotisch. Sie genießt die Avancen und vor allem die teuren Geschenke des Liliputaners Hans, ist aber - mehr oder weniger heimlich - mit dem Muskelmann Hercules liiert. Als Hans durch eine Erbschaft vermögend wird, heiratet sie den Kleinwüchsigen mit dem Plan, ihn zu vergiften und mit seinem Geld und Hercules zu fliehen. Hans‘ Freunde aber sind auf der Hut; und als Cleo während der Hochzeitsfeier ihren Widerwillen gegen die Gemeinschaft der Deformierten nicht verbergen kann, glaubt Hans endlich den Warnungen seiner Freunde. Im Schutz einer stürmischen Nacht ziehen die Freaks aus, um sich für die erlittenen Demütigungen zu rächen. Cleopatra trachtete aus Gewinnsucht danach, durch Heirat in den Bund der Verfemten aufgenommen zu werden - jetzt sorgen diese dafür, daß sie auf Lebenszeit zu ihnen gehört...
Produktionschef Irving Thalberg hatte von Tod Browning einen Film verlangt, mit dem die MGM den erfolgreichen Horrorfilmen der Filmgesellschaft Universa Paroli bieten konnte. Was ihm Browning lieferte, mißachtete jedoch die Normen des Genres und überschritt die Toleranzgrenze der Zensoren. In Freaks bricht nicht wie gewohnt das Grauen in Gestalt eines gräßlichen Monsters in den Alltag der Identifikationsfiguren; hier werden die äußerlich so Normalen durch Verachtung, Haß und Habgier selbst zu Monstren. Durfte das „innere Ungeheuer“ in Dr. Jekyll und Mr. Hyde nur in einer abgespaltenen, vertierten Persönlichkeit präsent sein, so stand bei Browning gerade die Schönheit - und zwar des Mannes wie der Frau sinnbildlich für ihre seelische Deformation, mit der sie in der auf Mitmenschlichkeit und gegenseitigem Respekt gründenden Gemeinschaft der Verunstalteten zu Außenseitern werden müssen.
Tod Browning drehte seinen Film mit Darstellern aus dem Zirkusmilieu und echten „Freaks“. Das Resultat verstörte Zensoren und Publikum dermaßen, daß der Film mehrfach gekürzt und umgeschnitten wurde, in Großbritannien (ein bis 1963 gültig gebliebenes) Aufführungsverbot erhielt und schließlich, kaum ausgewertet, in den Filmlagern der MGM verschwand. Erst drei Jahre später bekam Browning wieder einen Regieauftrag; sein poetisch-realistischer Horrorfilm aber gilt heute als Meisterwerk eines der wenigen großen Außenseiter, die das frühe Hollywood hervorgebracht hat.
Harald Keller
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