■ Spätlese: Eigensinn
Die Rede von der Entfremdung ist ein bißchen aus der Mode gekommen; nicht allerdings, weil man sich ihrer schämte („Einige meiner besten Aufsätze behandeln die Entfremdungstheorie...“), sondern weil man ihrer allzu gewiß geworden ist mit den speckiger werdenden Jahren: ihre Unentrinnbarkeit machte sie ja erst richtig beliebt; schließlich aber ist das Gefühl gemäßigter und aufgeklärter Zufriedenheit auch nicht zu verachten. Dem jetzt so flau erscheinenden Empfinden wurde aber einmal viel geistige Arbeit gewidmet, und dieser Arbeit am Mythos verdanken wir die besseren Seiten unserer Gegenwart. Während allenthalben die 68er ihrer bösen Vergangenheit abschwören und sich alte Schlösser, verläßliche Vaterfiguren und, überhaupt!, mehr Positives wünschen, ist nun ein Buch wieder da, das der „Gewalt des Zusammenhangs“, die Entfremdung bewirkt, und dem menschlichen Eigensinn, der ihr widersteht, seine ganze Aufmerksamkeit widmet. An ihre eigenen Träume und die kollektiven der siebziger Jahre erinnern Oskar Negt und Alexander Kluge in der überarbeiteten Neuauflage von „Geschichte und Eigensinn“, diesem legendären Atlas der Abschweifungen ins Innerste: „Es geht um die Gegenwart“, verheißen die beiden Autoren im Vorwort, „aber auch um zweitausend Jahre Geschichte.“
Dies ist gewißlich wahr. Ich kenne persönlich nur einen Menschen, der das Original ganz und gar und Satz für Satz gelesen hat (und davon noch dazu heitere Bäckchen bekam): ein Student nämlich des Faches Philosophie, das ja von alters her seinen Liebhabern durch verlogene Ansprüche an Systematik und Wichtigkeit eine große Gier nach Aus- und Abschweifungen einzutragen pflegt. So gibt auch „Geschichte und Eigensinn“ ein solches Kompensationskompendium ab, voll von großartigen und merkwürdigen Bildern und Anmerkungen, poetischen Behauptungen und prüfenden Marx-Exegesen, opaken Passagen und erhellenden Pointen zu Kleist, dem Tastsinn, der Uhr, dem Krieg, dem Laboratorium Deutschland und vielem mehr zwischen Himmel und Erde; Mond und Sonne naturgemäß nicht ausgenommen. Eigentümlich ist den Verfassern der produktiv sich auswirkende Ehrgeiz, unter ungewohnten Sammel- oder Organisationsbegriffen pyramidisch Bemerkungen anzuhäufen. Damit wird ein Gerüst der Logik angedeutet, das sich freilich auf die Lektüre nur schwach gestaltend auswirkt: am Ende siegt doch das Gefühl, es wäre ein aufgemaltes Skelett gewesen, wie bei einem Faschings-Ausleih-Kostüm. Denn das aus den Rändern laufende, das überraschende, schreckliche, rührende und komische Material des Denkens, das die Autoren uns scheinsortiert übergeben, wird doch selten streng sachlich genutzt. Der akademisch disziplinierte Wille, jed' Ding mit einem anderen hierarchisch zu verknüpfen, um dann zu höherer Ordnung aufzusteigen, wird ebenso enttäuscht wie die Gewohnheit, allein „zur Sache“ zu denken. Aber das macht nichts: „Man sieht Sachlichkeit am besten, wenn man sie als Erfahrungsvernarbung versteht. Sie schwankt zwischen dem guten Willen [im Original hervorgehoben, ES], sich der Reibung der Gegenstände, dem Objektdruck zu unterwerfen, und dem Omnipotenzgefühl, dem spezifischen Eigensinn und Übermut der Erkenntnis. Aus beidem: (1) der Allgewalt, (2) der Berührungsfläche bilden sich die Wurzeln des Vertrauens, die der Trennschärfe und die des Zusammenhangs, jeweils auf zweifache Weise. Soweit Erkenntnisvermögen Potential bleibt, bleibt es bei dieser Zwiegestalt, in allen Vergegenständlichungen kommt es auf Grund der zwiefachen Wurzel zu einer Verwundung, später ist sie Narbe. Hierin ist eine realistische Haltung immer tote und lebendige Arbeit zugleich.“
Oskar Negt/Alexander Kluge: „Geschichte und Eigensinn“.
Drei Bände. Überarbeitete Neuausgabe. Suhrkamp Taschenbuch, 59 DM
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