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Archiv-Artikel

Echte Beutekunst

Ukrainische Jugendcliquen, deutsche Bordelle und russische Gangster: Lilli Brands erfahrungsgesättigte „Transitgeschichten“

VON DETLEF KUHLBRODT

Das Buch „Transitgeschichten“ von Lilli Brand ist ein schönes, interessantes und in vielem auch sehr komisches Buch; eine Art literarisch-journalistische Autobiografie, die aus dem ereignisreichen Leben der Autorin erzählt, die 1974 unter dem Namen Ludmilla Nikolajewna Ischtschuk in einer ukrainischen Kleinstadt geboren wurde, wegen hoher Schulden zunächst in Warschau als Nackttänzerin arbeitete und dann mit Hilfe einer so genannten Schlepperbande nach Deutschland fuhr.

Hier arbeitete sie bis 2001 hauptsächlich als Prostituierte in verschiedenen Etablissements verschiedener Städte zwischen Freiburg und Berlin, machte eine Sexarbeiterinnenausbildung in Kaiserslautern, ehelichte einen gewissen Herrn Brand, verfiel zeitweise den Drogen, lebte mit verschiedenen Männern und Hunden zusammen, verliebte sich häufig mit allen Konsequenzen in Gangster unterschiedlicher Nationalität, gescheiterte Philosophen und andere so genannte gesellschaftliche Außenseiter, verbrachte ein paar Monate in Gefängnissen wegen Bagatelldelikten. Lilli Brand scheiterte in vielen Unternehmungen. Vor vier Jahren begann sie dann Texte vor allem in der taz zu veröffentlichen. Dabei wurde sie von Helmut Höge unterstützt, der als „Ghosteditor“ für zahlreiche migrantische AutorInnen, unter anderem auch Wladimir Kaminer, tätig ist. Die Zusammenarbeit mit Höge bestand darin, dass die Autorin erzählte und Höge aufschrieb und redigierte.

Die „Transitgeschichten“ sind interessant in vielerlei Hinsicht. Das Autobiografische zum Beispiel. Normalerweise ist es ja nicht so, dass Menschen, die solche Dinge erlebt haben, ein Buch schreiben. Über sie wird ja eher geschrieben. Und in den Texten, die über sie in bester Absicht geschrieben werden, sind Prostituierte mit Migrantenhintergrund fast immer Opfer; naive junge Frauen, die, vom Schein des Westens geblendet, sich in die Hände skrupelloser Schleuser begeben, mit Drogen willenlos gemacht, in den Kellern übler Bordelle gefangen gehalten und von Puff zu Puff verkauft werden, wo sie dann Freiern, die nicht Freunde sein dürfen, sondern irgendwie als minderwertig gelten, zu Willen sein müssen.

Von solchen Migrantenschicksalen erzählt Lilli Brand auch. In einem Kapitel ihres Buches werden gefangene Prostituierte aus Weißrussland aber nicht von der Polizei, sondern von russischen Gangstern befreit. Aber es geht Lilli Brand nicht darum, etwaigen Klischees über die Migrantenprostitution andere entgegenzusetzen, sondern darum, ihre eigene Geschichte zu erzählen.

Die literarisch gebildete, vielsprachige, eher geistes- als naturwissenschaftlich orientierte Heldin, eine sehr gute Schülerin und hervorragende Tischtennisspielerin, kennt den Preis, den es kostet, aus der Ukraine in den Westen zu kommen. Und sie ist bereit, ihn auch zu entrichten. Das hat für uns hier etwas Anstößiges. Zumal Lilli Brand sich ja nicht nur die Freiheit genommen hat, als Prostituierte zu arbeiten, um hier bestehen zu können, sondern darüber auch noch sehr humorvoll schreibt. Dabei spricht sie nie schlecht über die Menschen, denen sie begegnete. Dass es in diesem Schreiben auch darum geht, sich von dem Beschriebenen zu lösen, kennzeichnet viele autobiografische Geschichten.

Die existenzielle und auch aufklärerische Dimension der schreibenden Arbeit am Selbst besteht ja in dem Versuch des beschädigten Ichs, sich selbst zu reparieren, dem Chaotischen Form und sich selbst vielleicht Halt zu geben in der Welt. Faszinierend ist die Fülle der Details in Lilli Brands Texten. Während viele klassisch literarische Werke ja oft so gehen, dass die Autoren wenig erlebt haben und viel darüber schreiben, ist es hier eher umgekehrt.

Es gibt ein ständig übersprudelndes Mehr an Geschehen, Geschichten, Verwicklungen, Personen, Orten und es ist ganz erstaunlich, wie knapp, lapidar und mit kurzen Sätzen die Autorin so viele Ereignisse schildert und miteinander verknüpft. Von der Jugendclique, mit der sie in der Ukraine immer herumhing, bis ins Bordell. Vom Heroin, das 1989 ein Junge mit reichen Eltern in der ukrainischen Kleinstadt einführte, zu den Opiaten, die sie selber später nahm als Prostituierte. Von der einäugigen Mutter, einer überzeugten Kommunistin, zu ihrem dritten, einäugigen Hund Max, der am liebsten Kiwis und Klementinen isst. Von diesem zu jenem Geliebten.

Seltsam bei all dieser Detailfülle, dass lebensgeschichtlich entscheidende Dinge ganz knapp nur und immer eher von außen beschrieben werden, als gäbe es da eine Sperre, sich selber genauer zu erforschen. Über einen Selbstmordversuch verliert Lilli Brand zum Beispiel gerade mal zwei Sätze.

Die Kapitel dieses Buches enthalten genug Beobachtungen für mehrere Romane. In einem dieser Romane würde es um die Entstehung und das Auseinanderbrechen einer Jugendclique in einer ukrainischen Kleinstadt gehen; in einem anderen um Drogen- und Medikamentensucht; im nächsten um Prostitution in Deutschland. Dann gibt es wieder sehr lustige Erzählungen, die von den vergeblichen Versuchen handeln, mithilfe von zwielichtigen Wahrsagern oder Preisausschreiben sein Glück zu machen.

„Man bekommt immer nur ganz kleine und oftmals nutzlose Dinge“, erkennt die Autorin am Ende ihrer Gewinnspielsucht. Lilli Brand möchte als Autorin nicht mehr aufs Rotlichtmilieu festgelegt werden. Die einzige Schwäche des Buchs besteht darin, dass es viel zu kurz ist.

Lilli Brand: „Transitgeschichten“. Erzählungen. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004, 157 Seiten, 17,90 Euro