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Echt geil

■ Zur Neuausgabe der expressionistischen Lyrikanthologie „Der Kondor“

Manche Texte führen ein Eigenleben. Sie an ihrem Ursprungsort zu sehen, läßt sie ganz verändert erscheinen. So ging es mir mit Heyms Ophelia - Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten -, als ich es im wunderschönen Reprint der 1912 erschienenen Anthologie Der Kondor las. Heilige Texte des Expressionismus neben allerhand Hofmannsthal-Nachfolge und keckem Großstadtton, bei dem sich „Tip“ auf „Flip“ reimt.

Der Einbruch der neuen Wörter und der großen Extase ins feine Gedicht noch ungeschieden nebeneinander. Daneben Zeilen, bei denen ich ins Grübeln komme und niemals wissen werde, worin ihre Schönheit liegt:

„Deine Augen sind schimmernde Nile

lässig um meinen Tanz.“ (Else Lasker-Schüler)

Wer Werfels ausrufezeichenreiches „O Mensch„-Pathos nachlesen, seine Komik genießen möchte, bekommt reichlich Gelegenheit dazu: „Mein einziger Wunsch ist, dir, o Mensch, verwandt zu sein!“ Vom selben Autor gibt es aber auch schöne Zeilen, deren Reiz in der Ironisierung von Situationen liegt, die ihm an anderen Stellen seine berühmten verqueren Übersteigerungen entlocken:

„In der Küche setzte sie sich auf die Kohlenkiste, legte die Hände in den Schoß

Und weinte vielfach, in allen Lagen, nach aller Kunst, voll Genuß, laut und grenzenlos.

Die Anthologie gehört zum Schönsten, was dieses Jahr auf dem Buchmarkt erschienen ist. Das liegt nicht nur am Zeitkolorit, das der Band transportiert, sondern natürlich in erster Linie an der herausragenden Qualität der hier versammelten Gedichte. 350 Exemplare hatte die Erstausgabe von 1912. Diese zweite hat auch nur eintausend. Viele, viele mehr wünsche ich dem Band.

Paul Raabes Nachwort erläutert das Zustandekommen der Anthologie, die Auseinandersetzungen und Kompromisse, erzählt von der Resonanz des Buches und vom Schicksal der Autoren. Er zitiert ausgiebig aus zeitgenössischen Veröffentlichungen. Wer sich für die Karrieren von Modewörtern interessiert, wird überrascht in Herbert Eulenburgs Dialog über den „Kondor„ einen alten Professor finden, der mit der jungen Lyrik natürlich nichts anfangen kann und entsprechend losschimpft: „Sie mögen sich mit ihrer Unverlogenheit, auf die sie wohl gar noch stolz sind, brüsten und mit ihrem Lieblingswort 'geil‘ wunders wie lebendig vorkommen...“ So alt ist das also schon.

A.W.

„Der Kondor“, herausgegeben von Kurt Hiller 1912, mit einem Nachwort von Paul Raabe, Silver & Goldstein, 192 Seiten, 34 DM

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