: Echokammern im Kopf
Der John Coltrane unserer Zeit? Die finnische Techno-Ausnahmefigur Vladislav Delay ist unter seinem Pseudonym Luomo im Phonodrome zu Gast ■ Von Nikola Duric
Wenn sich im Mai die Sonne entscheidet, am nördlichen Himmel zu erscheinen, kann man in Helsinki, der Hafenstadt aus weißem Stein, sogar für eine Kaffeelänge im Freien sitzen. Ich treffe Vladislav Delay in der Kantine des Kiyasma-Museums für moderne Kunst. Es ist das erste Mal in diesem Jahr, dass er sich aus dem Vorort, wo er in einer winzigen Wohnung inmitten seines Maschinenparks mit seiner Freundin und einem großen Hund lebt, in die Innercity vorgewagt hat. Er hat etwas zu viel Eau de Toilette aufgetragen, seine Bewegungen und seine Sprache sind bedächtig und vorsichtig gewählt. Er erzählt von seiner Zeit als Schlagzeuger in einer Jazzband, und wie die Musik eine so große Rolle in seinem Leben einnahm, dass er von der Schule ging. Dann wollte er alleine Musik machen, und begann dafür elektronische Musikgeräte anzuhäufen.
Am Abend treffen wir uns erneut in einem Club mit anderen finnischen Musikern, und alle Legenden über den Nordzipfel der EU stellen sich als wahr heraus: Niemand findet es eigenartig, mit Autos stundenlang im Kreis zu fahren und sich dabei zu betrinken. Mit Bier hält sich keiner auf, es werden in schneller Folge doppelte Wodka ohne Eis verteilt, bis man Stirn an Stirn gelehnt, um nicht umzufallen, weiter redet. Delay erzählt, wie er so lange in Russland unterwegs war, bis er das Modell einer sagen-umwobenen sowjetischen Drummachine gefunden hatte. Er berichtet von geheimen Raves in Estland, die in verlassenen Bunkern der UdSSR-Armee stattfanden. Er sagt, dass finnische Clubs ihre Musik immer zu leise spielen.
Jede Kunstform bringt auch Supertalente hervor. Auch wenn man dachte, dass Techno eine funktionale und berechnete Musik sei, gibt es in der elektronischen Tanzmusik Ausnahmefiguren. In Deutschland komponierte Mike Ink. scheinbar mühelos zwischen Frühstück und Mittagessen seine stilbildende Studio 1-Reihe, ohne nebenher das Erstellen einiger Acidpop-Songs und der Ambientalben als Gas zu vergessen. In England schummelt sich Matthew Herbert zwischen die Genres. Und in Finnland übernimmt Delay unter verschiedenen Pseudonymen die Bearbeitung elektronischer Musik zwischen Ambient-Dub, Deep-House und Klick-Techno.
Die Geschichte der Musik im Allgemeinen und der Tricks und Aufnahmebedingungen im Speziellen war auch immer die Geschichte von Geräten. 1964, zwei Jahre nach ihrem Singledebüt „Love Me Do“ kaufte sich die Plattenfirma EMI die erste Vierspurmaschine und ließ die Beatles für „I Want To Hold Your Hand“ an das Gerät. Einige Jahre später zogen sich die Fab Four in die Echokammer des Studios zurück, um dort nicht vom wachsamen Produzenten George Martin beim Kiffen erwischt zu werden. Als Simon & Garfunkel einen Delay-Effekt für ihre Aufnahme haben wollten, spielten sie Songs im Aufzugschacht ihres Studios nach.
Noch heute lassen sich die Wege der ersten Vierspurmaschinen in Jamaika verfolgen. Coxsone Dodd gründete 1963 das legendäre „Studio One“ in Kingston. Es war zunächst ein Ein-Spur-Studio und wurde 1965 auf zwei Spuren umgerüstet. Ein deutscher Tontechniker namens Luntz baute es schließlich auf vier Spuren um, bevor es an King Tubby weiterverkauft wurde. In Jamaika wurde der Grundstein für Techno gelegt, weil dort zuerst die Post-Produktion am Mischpult genauso wichtig wurde wie die Aufnahmen selbst. Vladislav Delay erzählt, daß er mit 30, also in sieben Jahren, nach Jamaika ziehen will, in ein Dorf ohne Telefon. Dub-Reggae ist nach wie vor die wichtigste Inspirationsquelle für seine Musik, und während viele Produzenten heute ausschließlich am Monitor, das heißt direkt im Computer mischen, ist ein zwölfspuriger Mixer das wichtigste Gerät in Delays Home Recording Studio, dem Ort, an dem die langen Tracks entstehen. Delay benutzt das Mischpult wie ein Instrument.
Cirka alle zwanzig Jahre kommt es in der Musikgeschichte zu mehr oder weniger großen Quantensprüngen, meist, wenn ein neuer Spirit ins Spiel kommt, oder neue Techniken das eingespielte Schema hinter sich lassen. In den Vierzigern veränderten Dizzy Gillespie und Charlie Parker die Musikwelt, in den Sechzigern veränderten Ornette Coleman und John Coltrane den Klang des Jazz, in den Achtzigern brachte der britische Produzent Trevor Horn den Sampler ins Spiel, und im neuen Jahrtausend nehmen Matthew Herbert und Vladislav Delay Sonderstellungen ein: Herberts Klangkonstruktionen aus echten Sounds, wie dem Quietschen eines Wasserhahns, könnten ihre Entsprechung in Colemans Blasen eines Plastik-Saxophons finden; Delay ist der Coltrane unserer Zeit, seine Musik scheint aus dem Nirgendwo zu kommen – und führt überall hin, ohne Kitsch und Esoterik. Delays neues Album Anima, ein 40-minütiger Track, findet seinen Partner in Coltranes 15-minütiger Liveversion von „Naima“. Am Ende von „A Love Supreme“ sagt Coltrane die drei einfachen Worte „Erhebung, Eleganz, Begeiste-rung“, kündigt damit die Programmatik seiner Musik an – und beschreibt nebenbei den zukünftigen Weg des Vladislav Delay.
mit DJ Knigge und Matthias Schaffhäuser: Freitag, 22 Uhr, Phonodrome
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