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EUROFACETTENWie zwei Fische im Meer

■ Drei verzückte Tage auf Lough Derg

Die Erschöpfung gewann die Oberhand über ihren Geist. Gegenstände begannen sich aufzulösen, wurden mit ihren Umrissen aus dem Ganzen herausgerissen — bald war es die Kanzel, bald eine Statue, bald ein Kruzifix. Jeder Gegenstand wurde so lebendig wie eine Halluzination. Das Kruzifix löste sich von der Wand und neigte sich ihr entgegen, und lange Zeit sah sie nichts als den schweren, hängenden Körper, die starren Augen, so daß, als der alte Mann neben ihr seinen Kopf auf ihre Schultern sinken ließ und dann zusammenzuckend aufwachte, sie ihn ebensowenig spürte, als wenn sie zwei Fische im Meer wären, die sich berührt hatten. Allmählich zogen die Anrufungen sie in ihren Bann; Laute drangen aus ihrem Mund; Gebete fluteten zwischen ihr und den kummervollen Augen hin und her, die sie fixierten. Sie schwebte in einer Verzückung, die so köstlich war wie manch einer von den herrlichen Tänzen ihrer Jugendzeit, als sie im Wirbel der Musik dahinflog, im Schwung der Körper, im Kreiseln der Lichter, ihrem sterblichen Körper entschwebend, allein in den Armen, die sie umfingen.

Plötzlich brach alles auseinander. Die Gebete waren durch eine der vier nächtlichen Pausen unterbrochen worden. Die dicht zusammengedrängten Pilger entspannten sich. Sie blickte sich trüben Auges um — nun nicht länger aus dem Ganzen herausgerissen. In ihren Eingeweiden rumorte es. Sie schaute auf den alten Mann neben sich. Sie lächelte ihn an — und er sie. Sie gingen alle ins Freie, um sich in der kühlen und jetzt trockenen Luft zu recken oder rasch zu rauchen. Die bernsteingelben Fenster der Kirche zitterten in einer Wasserpfütze. Eine junge Frau mit herzhafter Stimme, die sich aufs Geländer lehnte, bot ihr Feuer an. Das Streichholz verzischte im unsichtbaren See, der unter ihnen gegen die Bohlen plätscherte.

Sie hatte die Gabe der Insel empfangen: das Gefühl der Weltabgeschiedenheit, fast ein Erlebnis wie vom Sterben der Welt. Darin liegt die Freundlichkeit jener Insel. Keiner ist bloß ein Ding, arm, um von Reich ausgebeutet zu werden, schwach, um von Stark ausgebeutet zu werden; in gegenseitiger Freigiebigkeit erkennt jeder den andern als Form einer Seele; es ist ein kurzes, gestrenges Utopien allgemeiner nackter Gleichheit. Die nackten Füße sind das Symbol einer Nacktheit, die in der Welt, welche sie verlassen haben, unbekannt ist. Sean O'Faolain

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