EU/TÜRKEI II: DIE ZEIT FÜR TAKTISCHE SPIELCHEN IST VORBEI : Ein inakzeptabler Zustand
Es ist ein Nervenkrieg auf den letzten Metern. Stunden bevor die „historischen“ Beitrittsgespräche zwischen der Türkei und der EU beginnen sollen, wird man in Ankara immer noch nicht wissen, mit welchem Verhandlungsrahmen Brüssel die türkische Regierung konfrontieren wird. Ein eigentlich völlig unakzeptabler Zustand. Er führt dazu, dass in der Türkei mehr und mehr der beteiligten Akteure ihren Gefühlen freien Lauf lassen und dieser offenkundig demütigenden Situation ein Ende setzen möchten.
Ist es also denkbar, dass diese Regierung auf den letzten Metern den Büttel hinschmeißt, nachdem sie sich vom ersten Tag ihres Amtsantritts massiv darum bemüht hatte, die Türkei reif für Beitrittsgespräche zu machen? Ist es denkbar, dass in diesen Tagen die Mitte des 19. Jahrhunderts begonnene Europäisierung der Türkei abreißt und verschwindet wie der Golfstrom, wenn er zu viel süßes Gletscherwasser abbekommt?
Ja, es ist denkbar. Einigen Spielern auf westeuropäischer Seite scheint nicht klar zu sein, dass es tatsächlich um eine historische Entscheidung geht. Wenn sie denn aufrichtig davon überzeugt sind, dass die EU und die Türkei nicht zusammengehören, dann sollen sie offen gegen Verhandlungen auftreten, statt immer neue Taschenspielertricks vorzuführen. Das Versprechen der türkischen Regierung, am Montag nicht anzureisen, wenn nicht rechtzeitig vorher der Verhandlungsrahmen mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft geklärt ist, ist durchaus ernst gemeint.
Die Regierung Erdogan steht innenpolitisch so stark unter Druck, dass sie keinen weiteren Spielraum mehr hat. Das bedeutet dann aber wohl auch, dass ein großes Projekt gescheitert ist. Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan und sein Außenminister Abdullah Gül werden sich auf keine weiteren Spielchen mit den unterschiedlichen Akteuren auf EU-Seite mehr einlassen. Wenn aber die EU selbst mit dieser Regierung nicht ins Geschäft kommt, ist in der politischen Landschaft der Türkei keine Formation mehr in Sicht, mit er es dann gehen könnte. JÜRGEN GOTTSCHLICH