■ Frankreich: Chirac bekommt Quittung für seinen Wahltrick: Durchschautes Manöver
Jacques Chirac wollte besonders klug sein: Er löste das Parlament auf, stürzte die Franzosen in vorgezogene Neuwahlen, ließ ihnen keine Zeit zu langen Debatten über Euro, Globalisierung und Arbeitslosigkeit und erwischte die Opposition unvorbereitet, uneinig und schwach. Chiracs Kalkül war klar: lieber jetzt einen knappen Sieg als im nächsten Frühjahr, bei den turnusmäßigen Parlamentswahlen, die zwangsläufig im Zeichen der gleichzeitig laufenden Euro- Debatte gestanden hätten, eine glatte Niederlage riskieren. Er wollte eine Bestätigung seiner Politik und, bis zum Ende seiner Amtszeit 2002, freie Hand mit einem konservativ beherrschten Parlament haben.
Seit dem ersten Wahldurchgang am Sonntag steht fest, daß sich der Präsident verschätzt hat. Und – was schwerer wiegt – daß er das politische Gespür seiner Landsleute unterschätzt hat. Im Gegensatz zu ihrem Präsidenten sind sich die Franzosen in den vergangenen zwei Jahren treu geblieben. Wie bei der Präsidentschaftswahl im Mai 1995 stimmten sie mehrheitlich euroskeptisch und mehrheitlich für soziale Garantien im Maastricht-Europa.
Bloß ergab das damals einen Wahlsieg für Chirac, der sein Sozialprogramm fünf Monate später über Bord warf und seine Ankündigung eines Euro-Referendums begrub – und heute einen für seine Gegner.
Die Franzosen haben das Manöver durchschaut. Ihrem Präsidenten, der die Wahlen nicht nur ohne Not ausgelöst, sondern sich auch aktiv in sie eingemischt und auch seinen deutschen Kollegen Helmut Kohl dafür eingespannt hat, verpaßten sie mehrere schwere Niederlagen. Erstens durch Enthaltung. Zweitens durch eine Abstimmung für die Rechtsextremen und gegen die Republik. Drittens durch eine Absage an die konservativen Parteien. Und viertens durch eine Stärkung der Linken, die aus dem ersten Durchgang als mögliche nächste Regierung Frankreichs hervorgeht.
Um die Kohabitation zu verhindern, kann Chirac in den verbleibenden vier Tagen alle möglichen neuen Manöver versuchen. Er kann das Gruppenfoto mit den Nato-Partnern und Rußland, das heute in Paris geschossen wird, als Beleg seiner internationalen Rolle einsetzen. Er kann vor der „kommunistischen Gefahr“ warnen. Er kann Premierminister Alain Juppé opfern und einen euroskeptischeren, sozialpolitisch glaubwürdigeren Konservativen aus dem Hut zaubern. Aus der Grube, die er den anderen gegraben hat, ist er damit noch lange nicht wieder heraus. Dorothea Hahn
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