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Archiv-Artikel

Durchdachter Retro-Baseball

Die Chicago White Sox gewinnen den Titel in der Major League Baseball souverän gegen die Houston Astros, obwohl vor Saisonbeginn kaum einer an das Team von Manager Guillen glaubte. 88 Jahre mussten die Sox auf die Trophäe warten

VON THOMAS WINKLER

Nein, Bescheidenheit ist nicht eine der hervorstechenden Eigenschaften von Oswaldo „Ozzie“ Guillen. Als seine Chicago White Sox endlich die World Series gewonnen hatten, gerade mal 88 Jahre nachdem ihnen dies das letzte Mal gelungen war, stand der Manager inmitten seiner jubelnden Spieler, grinste selbstzufrieden und ließ verlauten, dass er immer schon geplant hatte, „die Emotionen zurück nach Chicago zu bringen“.

Das ist Guillen zweifellos gelungen. Auch wenn der abschließende 1:0-Sieg, der vierte Sieg im vierten Match der Endspielserie, auswärts bei den Houston Astros gelang, stand die Heimatstadt der White Sox anschließend Kopf und feierte ausgelassen den sensationellen Titelgewinn. Einerseits verständlich, wartete Chicago doch schon ewig auf den Baseball-Titel, die innerstädtische Konkurrenz von den Cubs sogar schon seit 97 Jahren. Andererseits kam der Titel aber dann doch überraschend, denn in der Stadt am Lake Michigan waren die White Sox – vor allem im Vergleich zu den geradezu kultisch verehrten Cubs – in den letzten Jahrzehnten eher schlecht gelitten. Vor allem, dass das Team von 1919 die World Series verschoben, damit den größten Skandal in der langen Geschichte des Baseball ausgelöst hatte und fortan die „Black Sox“ genannt wurden, war ihrem Image nicht gerade zuträglich. Das hat sich nun ausdrücklich gewandelt. Und das ist zuvorderst Guillen zu verdanken.

Der gebürtige Venezuelaner, der hofft, Ende des Jahres die US-Staatsbürgerschaft zu erhalten, gilt als Großsprecher der Liga, als Mario Basler des Baseballs, einer mit Hang zum Genialischen, der aber schneller spricht, als er denkt. „Guillen dehnt das Recht auf Redefreiheit so wie dereinst Arnold Schwarzenegger seine Muskeln“, schrieb Sports Illustrated. Der 41-Jährige zieht gegnerische Manager durch den Kakao und wirft schon mal einem seiner eigenen Profis vor, er würde spielen „wie seine eigene Frau“.

Außerdem hat Guillen, seit er vor genau zwei Jahren der erste Manager aus Venezuela in den Major Leagues wurde, die Mannschaft konsequent umgebaut und so erst den unerwarteten Erfolg ermöglicht. Die alten White Sox waren ein Team, das aus großen, kräftig gebauten Spielern bestand, die viele Homeruns schlagen konnten, aber kaum mehr laufen. Guillen dagegen bevorzugt schnelle, defensivstarke Spieler, die, um zu punkten, den Ball nicht aus dem Stadion hämmern müssen. Sämtliche Experten prognostizierten seiner Mannschaft vor der Saison denn auch einen Platz im Tabellenkeller, und wer in Las Vegas auf einen World-Series-Sieg der White Sox setzte, bekam eine Quote von 25:1. „Die Gringos nennen das Small ball“, echauffierte sich Guillen, „in meinem Wörterbuch heißt das Smart ball.“ Diese Taktik ist einerseits altmodisch, andererseits aber auch sehr zeitgemäß: Dass es im Baseball seit zwei Jahren Dopingkontrollen gibt, mögen sie auch noch so lax sein, sieht man den Spielern, dem Spiel und den erfolgreichen Mannschaften an. Die Profis sind lange nicht mehr so muskelbepackt, und die Zahl der Homeruns geht zurück. Auch die Houston Astros spielten in dieser Saison einen Retro-Baseball, wie er auch schon vor 50 Jahren erfolgreich war.

Den Unterschied in der World Series machten schlussendlich aber die Manager aus. Die Schachzüge von Guillen, waren sie auch noch so unkonventionell, funktionierten allesamt. Sein Widerpart Phil Garner dagegen entschied sich meist für die falsche Einwechselung. Vor allem im letzten Spiel, als es kurz vor Schluss immer noch 0:0 stand, initiierte Guillen mit taktischen Anweisungen und geschickten Spielerwechseln den einen, alles entscheidenden Punkt. In Chicago hofft man nun, dass Guillen wieder mal nur einen Witz gerissen hat, als er vor einigen Wochen verkündete, unter Umständen seine Kariere beenden zu wollen, sollten die White Sox den Titel gewinnen.

Und Chicagos Bürgermeister Richard M. Daley betet wohl inständig, dass auch nicht ganz erst gemeint war, was Guillen einer nationalen Fernsehgemeinde mitzuteilen hatte – wenige Minuten nachdem er den Fluch der Black Sox gebannt hatte: „Passen Sie auf, Bürgermeister Daley, jetzt sind Sie dran!“