KANZLER SCHRÖDER BEREIST DEN DEUTSCHEN OSTEN: Dringende Chefsache
Einst hatten die Werbestrategen der SPD einen schönen Einfall. Der Osten, versprachen sie im Wahlkampf 1998, werde unter Gerhard Schröder zur Chefsache. Der Chef wurde gewählt, setzte einen Staatsminister aus den neuen Ländern für die neuen Länder ein, doch schon bald ging die Sache am Kabinettstisch irgendwie verloren. Zwei Jahre später drängt sich die Sache dem Chef regelrecht auf. Laut, aggressiv, fremdenfeindlich, dumpf.
Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt beginnt der Kanzler seine lang geplante Sommerreise durch den deutschen Osten. Doch bevor er aufgebrochen ist, haftet dem Besuch etwas Unwirkliches an. Dort nämlich, wo Schröder sich mit seinem Tross und den Journalisten im Gefolge hinbewegt, kann schon am nächsten Tag ein Ausländer oder irgendjemand, dessen Gesicht den Schlägern nicht gefällt, mit gebrochenen Schädel auf dem Marktplatz liegen. Das macht die fröhliche Stimmung, die dem Kanzler auf seiner Tour entgegenschlagen wird, so schal.
Als Helmut Kohl einst im Osten unterwegs war, waren die Bilder ähnlich. Freudige Menschen am Ostseestrande und im Harz. Gewiss, auch damals wurden Ausländer verprügelt und getötet. Nur kümmerte es Kohl keinen Deut. Die Zuwendung der Brüder und Schwestern, das war echt, das war das wahre Deutschland. Alles andere war nur so groß, wie es die Medien machten. Jede Reise in den Osten diente Kohl nur als Beweis, dass sich seine Vision von den blühenden Landschaften von Jahr zu Jahr erfüllte. So schritt der Exkanzler von einer Werkseröffnung zur nächsten, von Opel in Eisenach bis zur Raffinerie in Leuna.
So hätte es natürlich auch Kanzler Schröder am liebsten. Dass es nicht so werden wird, liegt nicht zuletzt an seinem Selbstverständnis. Kohl war der letzte Repräsentant des vorglobalen Deutschland, ein Produkt der Heimat für die Heimat. Schröder hingegen versteht sich als Chef einer Corporation namens Germany. Sie ringt, wie er es selbst sagt, im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe. Nur gibt es zur Zeit erhebliche Probleme, weil der östliche Seitenflügel von manchen dieser Köpfe nur unter Lebensgefahr zu betreten ist.
Ein guter Konzernchef will um die Probleme, die es seinem Laden gibt, wissen. Ein schlechter lügt sie sich zurecht. Des Kanzlers Sommertournee wird sich also von denen seines Vorgängers zu unterscheiden haben. Denn das Image des Ostens ist durch Stippvisiten allein nicht aufzuhellen. Der Osten, das ist auf der Leitungsebene der Germany Inc. immer noch das, was es im Herbst 1998 werden sollte: Chefsache. SEVERIN WEILAND
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