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Dreihundert Seiten Freistil

Die Angst, am anderen Ufer anzukommen: Die deutsch-ungarische Schriftstellerin Zsuzsa Bánk verarbeitet in ihrem preisgekrönten Debütroman „Der Schwimmer“ die Geschichte ihrer eigenen Familie

von JAN BRANDT

Ungarn 1956. Nachdem sowjetische Streitkräfte die Proteste in Budapest gewaltsam beendet haben, setzt eine Massenflucht an der österreichischen Grenze ein. Unter den Flüchtlingen ist auch eine junge Frau, die nicht nur vor dem politischen, sondern auch vor dem persönlichen Stillstand in eine Welt flieht, von der sie sich mehr Bewegung erhofft. Aber als sie in Deutschland ankommt, erfährt sie die gleiche Tristesse wie in der ungarischen Provinz.

Während sie versucht, in der Fremde ein neues Leben aufzubauen, warten Isti und seine ältere Schwester Kata, die Ich-Erzählerin, vergeblich darauf, dass ihre Mutter zurückkommt. Die beiden sind noch zu jung, um zu verstehen, warum sie genug hatte von den ärmlichen Verhältnissen und von ihrem unnahbaren, verträumten Ehemann, der mit seinen Kindern quer durchs Land reist, als man im Dorf über die Trennung zu reden beginnt.

Von diesen und anderen Fluchten handelt Zsuzsa Bánks Roman „Der Schwimmer“, für den die 37-jährige Schriftstellerin mit dem Open Mike, einem Stipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung und dem „aspekte“-Literaturpreis für das beste Prosadebüt des Jahres ausgezeichnet wurde. Zsuzsa Bánk ist zwar zweisprachig erzogen worden. Aber im Gegensatz zu der ebenfalls aus Ungarn stammenden Schriftstellerin Terézia Mora, die kurz vor der Wende in den Westen übergesiedelt ist, hat Zsuzsa Bánk ihre Kindheit in Hessen verbracht. Sie gehört zu einer Generation, die das Land der Eltern nur aus Erzählungen, von Bildern oder durch längere Aufenthalte kennt. Und so spürt Zsuzsa Bánk in „Der Schwimmer“ auch ihrer eigenen Familiengeschichte nach, indem sie eine Zeit literarisch auferstehen lässt, die von vielen als bleiern empfunden wurde und die ihre Eltern veranlasste, Ungarn zu verlassen.

Der Schwimmer, das ist Isti, ein eigenwilliger, etwas kränklicher Junge, auf den Kata immer Acht geben muss, damit ihm nichts zustößt. Wie der Vater, der oft stundenlang an die Decke starrt, driftet auch Isti gelegentlich ab. Dann hört er seltsame Geräusch, streunt in den nahen Wäldern umher und spricht eine unbekannte Sprache. Erst als sie sich bei einem schwachsinnigen Onkel und seiner Familie am Plattensee einquartieren, erleben sie Glück und Geborgenheit.

Diese Zeit der Harmonie nimmt den größten Teil des Romans ein und markiert zugleich seine größte Schwäche. Denn die Spannung, die durch das Verschwinden der Mutter entsteht, wird nicht eingelöst. Anstatt die Gründe für ihre Flucht zu erklären, lässt Zsuzsa Bánk die Großmutter auftreten, die an den See kommt und allen lang und breit und reichlich klischeehaft vom Leben ihrer Tochter berichtet: Sie erzählt ihnen vom Flüchtlingslager, von misstrauischen und hinterhältigen Arbeitgebern, von Würstchenbuden und Eisdielen und vom Regen, der in der neuen Heimat unaufhörlich auf die Mutter niedergeht.

Zsuzsa Bánks durchaus originelle Methode, Haupt- und Nebenfiguren jeweils für ein Kapitel heranzuzoomen, führt spätestens hier in eine Sackgasse, weil sie das Potenzial der fiktiven Biografien nicht ausschöpft und die Figuren eher lustlos umeinander herumkreisen. Was als eigenständige Erzählung funktioniert, nutzt sich zusammengenommen und episch ausgebreitet schnell ab.

Mit dem „Schwimmer“ hat Zsuzsa Bánk dennoch ein griffiges Bild für jenen Menschentypus gefunden, der charakteristisch gewesen sein mag für die Lähmung nach dem gescheiterten Aufstand, obwohl der politische Hintergrund nur in kurzen Andeutungen aufscheint. Bánk beschreibt in einer leisen, poetischen Sprache das Schicksal einer an den äußeren Umständen zerbrochenen Familie und die Geschichte von intelligenten Kindern, denen die Erwachsenen manchmal vorkommen wie Tiere, die „in eine Falle gelaufen“ sind. Trotz ihrer Fähigkeit, die Welt besonders intensiv wahrzunehmen, gelingt es den Kindern nicht, sich zu emanzipieren, und scheinbar haben sie auch gar kein Interesse daran.

Im Grunde sind nämlich alle Figuren von Zsuzsa Bánk Schwimmer, die sich vor dem Ufer fürchten. Sie wollen sich nicht festlegen, sehnen sich jedoch danach, irgendwann irgendwo anzukommen. Manchmal tauchen sie ab und leben eine Weile in einer Luftblase, bevor sie wieder an die Oberfläche gespült werden. Das ist alles. Die Mutter bleibt, wo sie ist, der Vater dümpelt vor sich hin, Isti krault und schwimmt mit sich selbst um die Wette, und Kata versucht mit den immer gleichen Worten, mit „vielleicht“ und „ich weiß nicht“, mit „wenn“ und „als“, und ohne das Tempo zu verändern, eine ruhige, unbewegte Epoche heraufzubeschwören.

Immerhin erreicht Zsuzsa Bánk durch die schlichte Sprache, die sie ihrer Erzählerin in den Mund legt, und einen durchgehenden Moll-Sound, dass die Melancholie, unter der viele Osteuropäer im Kalten Krieg gelitten haben mögen, wieder fühlbar wird. So quälend gleichmäßig und spannungsarm, wie sich der Text über dreihundert Seiten in die Länge zieht, könnten die Fünfziger- und Sechzigerjahre in Ungarn tatsächlich gewesen sein.

Zsuzsa Bánk: „Der Schwimmer“. S. Fischer, Frankfurt am Main 2002. 290 S., 18,90 €

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