: Drama an der Donau
Die SPD im Land hat ein Problem. Mit Stuttgart 21, mit der Rolle als Juniorpartner der Grünen, aber vor allem mit sich selbst. Interne Kritik? Gehört sich nicht! Und wenn die Basis wie bei S 21 doch mal aufmuckt, kennen die Genossen keine Gnade. Die Gräben in der Partei sind tief und wie im Brennglas zu beobachten in der Münsterstadt Ulm. Dort hat jetzt ein Frauentrio der Irrationalität den Kampf angesagt
von Susanne Stiefel
Der luftig rote Info-Pavillon vor dem Ulmer Bahnhof ist der ganze Stolz der S-21-Befürworter. Aufgestellt hat ihn die Stadt Ulm, die seit Jahrzehnten regiert wird von dem S-21-Fan Ivo Gönner. Seitdem wirbt das futuristische Gebäude unübersehbar für das gigantische Bahnprojekt S 21, das so enormes Spaltpotenzial hat. Vor dem Eingang stehen wie Palisaden Stangen auf Betonsockeln, die den Besuch des Pavillons zu einem Slalom machen. „Die haben sie aufgestellt, damit wir hier nicht mehr unserer Montagsdemos abhalten können“, sagt Birgit Oelmayer und schiebt ihr Fahrrad an dem Bollwerk der Ulmer Bahnhofsfans vorbei.
Die grüne Gemeinderätin kennt die Bahnhofsverliebtheit ihres sozialdemokratischen Oberbürgermeisters und der Mehrheit des Ulmer Gemeinderats nur zu gut. Sie musste sich schon manch harsche Worte anhören. Ivo Gönner, ausgestattet mit der Machtfülle baden-württembergischer Bürgermeister, hat dieses überbordende Selbstbewusstsein, das Widerspruch einfach wegfegt. Das bestimmt das Klima in der Münsterstadt. Man geht in Ulm nicht zimperlich um mit Befürwortern eines Kopfbahnhofs. Besonders nicht, wenn sie von der SPD sind.
In Ulm zeigt sich die tiefe Spaltung der Sozialdemokraten wie im Brennglas. Der Bahnhof ist Fortschritt, wer dagegen ist, ein Hinterwäldler. Manchmal ist Birgit Oelmayer froh, dass sie nicht SPD-Mitglied ist. Noch öfter wundert sie sich über die Sozis, die doch in Stuttgart eine Koalition mit den Grünen bilden. Davon ist in Ulm nichts zu spüren. „Wie lange soll das noch weitergehen mit diesem irrationalen Irrsinn?“, fragt die Grüne.
Ivo Gönner ist der „Wut-Bürgermeister“
Es sind vier SPD-Mitglieder, die in dem Drama an der Donau die Hauptrolle spielen. Die Prominenteste dürfte Brigitte Dahlbender sein, die BUND-Landeschefin, und als Sprecherin des Aktionsbündnisses der S-21-Gegner bekannt aus Schlichtung und Fernsehen. Außerdem SPD-Mitglied und langjährige SPD-Ortschaftsrätin in einem Ulmer Ortsteil, wo sie auch wohnt. Die Ulmer Bundestagsabgeordnete und SPD-Parteivize Hilde Mattheis gehört zum linken Flügel der SPD und zu den bekennenden S-21-Gegnern bei den Sozialdemokraten, was immer noch zu wenige sind, wie Klaus Riedel sagt. Der wohnt zwar nicht in Ulm, ist aber Koordinator der SPD-Mitglieder gegen S 21 und wird im Ulmer Drama eine kleine Nebenrolle spielen.
Auf der anderen Seite des Grabens gibt es den Oberbürgermeister von Ulm, Ivo Gönner, der sich auch schon mal als „König von Ulm“ sieht und mit aller oberbürgermeisterlichen Jovialität deutlich macht, was richtig und was falsch ist. „Wir haben hier einen Wut-Bürgermeister“, so das Fazit der Grünen-Gemeinderätin Birgit Oelmayer aus vielen Diskussionen. Und die Rolle des Schurken hat Martin Rivoir übernommen. Böse Zungen behaupten, S 21 sei die einzige Chance des Ulmer SPD-Landtagsabgeordneten, sich zu profilieren, und die nutze er weidlich. Mit harten Bandagen bekämpft der Elektroingenieur alle, die in dem Bahnhof nicht die Zukunft sehen, sondern ein Steuergrab.
Bevorzugt tritt der 51-Jährige an gegen Kritiker in den eigenen Reihen. Überfraktionell hingegen gibt sich Rivoir erstaunlich harmonisch. Ihn stört es wenig, dass die Ex-Umweltministerin Tanja Gönner zur CDU gehört und inzwischen zur Opposition in Stuttgart, während man selbst mit den Grünen die Regierung bildet. Mit Schwarz kennt der S-21-Fan keine Berührungsängste.
Stresstest auf der Toilette: Rivoir gegen Riedel
Und so kam es vor wenigen Wochen zu einer denkwürdigen Veranstaltung im Ulmer Tempel der Befürworter. Martin Rivoir, SPD, diskutiert mit Tanja Gönner, CDU, in der Infobox über S 21, auf Einladung der Ulmer CDU. Man ist sich einig, klopft sich auf die Schulter, der unterirdische Bahnhof muss her. „Wenn mich die Grünen einladen, diskutiere ich auch mit denen“, sagt Rivoir. In Sachen Bahnhof praktizieren die führenden Sozialdemokraten eine große Koalition mit der CDU, ungeachtet der Machtverhältnisse in Stuttgart.
Der Ulmer Rivoir weiß sich einig mit dem SPD-Führungspersonal Nils Schmid und Claus Schmiedel. Man ist sich sicher, zu den Guten zu gehören und dass auf S 21 der Segen Gottes liegt. Die Sache ist entschieden, basta. Daran ändert auch die Volksbefragung nichts. Und eine Befragung der Mitglieder hat die SPD erst gar nicht vorgesehen. Vergessen scheint, dass die Sozialdemokraten auf einem Parteitag in der Münsterstadt erst im Januar in der sogenannten Ulmer Erklärung festgehalten haben, dass es in ihrer Partei beide Positionen zu S 21 gibt. Und dass beide zu respektieren seien.
Wie es wirklich ist, zeigte sich bei der Stresstest-Präsentation im Stuttgarter Rathaus: Rivoir gegen Riedel, eine komödiantische Einlage im erbittert geführten innerparteilichen Krieg. Man traf sich beim Pinkeln, und das Gepolter auf der Toilette, so erinnert sich Riedel, war groß. Es stand der Vorwurf im Raum, Rivoir sei aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit bei AEG MIS, die Geschäfte mit der Bahn macht, befangen. „Herr Riedel, wenn Sie noch einmal behaupten, ich sei nicht unabhängig, schicke ich Ihnen einen Anwalt auf den Hals“, polterte Martin Rivoir auf dem Pissoir. „Als Sozialdemokraten sind wir immer noch per du, Martin, und schick den Anwalt ruhig sofort“, gab Klaus Riedel zurück. Loriot hätte die Szene nicht besser erfinden können. Stresstest bei den Sozialdemokraten.
Wirklich lustig ist das nicht. Besonders bekommt das Brigitte Dahlbender zu spüren. Zuerst trat Martin Rivoir wegen des Engagements der BUND-Vorsitzenden unter Protest aus dem BUND aus. Dann versuchte er mit einer kleinen Anfrage im Landtag, die Seriosität des BUND und damit von Dahlbender in Zweifel zu ziehen. „Ist es bekannt, dass die sogenannten Parkschützer zu Spenden auffordern und als Spendenadresse ein Konto des BUND-Regionalverbands Stuttgart angeben?“ Damit hinterfragte er die steuerliche Absetzbarkeit und die Abwicklung von Spenden über gemeinnützige Organisationen. Und wurde vor wenigen Tagen vom Parteifreund und Staatssekretär im Finanzministerium, Ingo Rust, zurückgepfiffen: Alles okay beim BUND. „Das ist doch gut, dass es geklärt ist“, sagt Rivoir auf Anfrage der Kontext:Wochenzeitung. Er klang schon kämpferischer.
Brigitte Dahlbender verkneift sich jede Häme über das Scheitern ihres Parteifreundes. Sie bleibt so sachlich und kühl wie bei den Schlichtungsverhandlungen. Die Frau mag klein und schmal sein, aber sie ist zäh. Und sie lässt sich von ihren Gegnern weder den Umgang noch den Stil der Debatte aufzwingen. „Unmanierlich“ ist das Äußerste, was ihr an Kritik über die Lippen kommt. Die 56-Jährige kämpft mit Argumenten. Vor wenigen Tagen hatte sie ein Gespräch beim SPD-Chef und Finanzminister. Sie hat Nils Schmid erzählt von den rund 20 Ortsvereinen, von denen sie Post bekommen hat, weil die sich mit dem Großprojekt nicht identifizieren könnten. Sie hat ihm von der Verpflichtung der Bürgerpartei SPD erzählt, sich den Protesten in den eigenen Reihen nicht zu verschließen. Sie hat ihm vorgerechnet, dass S 21 viel teurer und ihm das Projekt als Finanzminister um die Ohren fliegen wird. „Ich habe den Eindruck, dass ihm so langsam etwas schwant“, sagt Brigitte Dahlbender.
Diese Hoffnung hat auch Hilde Mattheis. Die 56-Jährige kennt das Spiel der Isolierung aus eigener Erfahrung. Wenn Genossen nicht mehr grüßen. Wenn sie vom Tisch aufstehen, wenn sich S-21-Gegner nähern. Die stellvertretende SPD-Landeschefin hat ihr Ulmer Büro Tür an Tür mit Martin Rivoir. „Ich will keine Ausweitung dieses SPD-internen Glaubenskrieges“, sagt die Ulmer Bundestagsabgeordnete und formuliert entsprechend vorsichtig. Sie wünscht sich, dass Gegner wie Befürworter in der SPD beim Volksentscheid im November für ihre Position werben können, ohne die grün-rote Koalition in Frage zu stellen. „Verbrannte Erde können wir uns nicht leisten“, sagt Mattheis.
Raus aus den Gräben und hin zu einem Bündnis der Vernunft
Diese Frauen suchen das Gespräch. Sie meinen, dass die SPD zurückfinden muss zu einer Diskussionskultur, die den Namen auch verdient. Und dass auf dem Landesparteitag am 15. Oktober eine gute Gelegenheit dazu ist. Brigitte Dahlbender will den Sieg der Vernunft. Und ist sich dabei einig mit ihrer Parteifreundin Hilde Mattheis und der Ulmer Grünen Birgit Oelmayer. Die Frauen wollen raus aus den Gräben. In Ulm könnte man damit anfangen. Weg von den erbitterten innerparteilichen Glaubenskriegen und dem harschen Umgang mit den Grünen.
Ein Begriff fällt immer wieder. Mal fassungslos, wie bei Birgit Oelmayer. Mal sachlich, wie bei Brigitte Dahlbender. Mal beschwörend, wie bei Hilde Mattheis: Vernunft. Wo bleibt bei alledem die Vernunft? Die drei Ulmer Frauen wollen nicht länger zusehen, wie „die S-21-Gegner ihre Kritik polarisierend einbringen“. Sie machen sich stark für ein Bündnis der Vernunft. Vor allem in Hinblick auf den Volksentscheid Ende November, wenn die Gefahr besteht, dass der innerparteiliche Konflikt zum offenen Krieg wird. Drohungen gibt es schon jetzt zur Genüge. Wenn sie spätnachts nach Hause kommt, bittet Brigitte Dahlbender den Taxifahrer zu warten, bis sie die Haustür aufgeschlossen hat. Damit soll jetzt Schluss sein. Die zwei SPD-Frauen und die grüne Gemeinderätin wollen in Ulm alle Beteiligten an einen Tisch holen.
Hilde Mattheis denkt an einen Kodex wie die SPD-Charta zur Landtagswahl im März. Sie könnte, so ihre Überlegung, „Charta für fairen innerparteilichen Umgang mit dem Volksentscheid zu S 21“ heißen. Das klingt sperrig, ist aber deutlich. Dieser Verhaltenskodex, so Mattheis' Wunsch, sollte vom Landesvorstand unterschrieben werden, von den Befürwortern Schmiedel und Schmid ebenso wie von den Gegnerinnen Hilde Mattheis und Leni Breymaier. Und sollte sich orientieren an den neun Punkten der Wahlcharta. Einer davon heißt: „Wir führen keinen plumpen Angriffs-, sondern einen Substanzwahlkampf.“ Das Ulmer Projekt der rot-grünen Frauen könnte zum Vorbild für die Landes-SPD werden.