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Drachen fliegen im Wind, nicht im Herbst

■ Sie heißen „Billy the Kid“ oder „Große Schneeflocke“: Ob Stand- oder Lenkdrachen, starker oder schwacher Wind – beim Drachensteigen ist für jeden Geschmack etwas dabei

Was in der Kindheit mit Packpapier, Holzleisten und einem Bindfaden anfing und auch mit kargem Taschengeld zu bezahlen war, kann im Erwachsenenalter mit beschichtetem Nylon, Kohlefaserstangen, High-Tech-Schnur und finanziellen Einbußen enden. Der Vielfalt bei Drachenmodellen sind so wenig Grenzen gesetzt wie dem Wind. Es gibt sie als Schwein, Bär, Frosch oder Möwe, mit drei, vier oder acht Ecken, für starke Winde oder Windstärken unter 4, wie sie in Berlin normal sind.

Im Gegensatz zu der Formen- und Farbenvielfalt gibt es nur zwei Arten von Drachen, die Stand- und die Lenkdrachen, erklärt Andreas Krauß, der in einem der wenigen Drachenläden in der Stadt arbeitet und sein Hobby vor sechs Jahren zum Beruf machte. In dem Schöneberger Geschäft mit dem Namen „Vom Winde verweht“ gibt es zwar keine Unterhosen oder Oberhemden. Aber selbst die könnten bei Wind zum Himmel hochsteigen, so Krauß. Bei den zwei- oder vierleinigen Lenkdrachen, fährt der 36jährige fort, seien der Kreativität schon eher Grenzen gesetzt. „Da muß man in einem bestimmten Rahmen bleiben und kann nur in der Segelgestaltung variieren.“

Auch die Kunden unterscheidet Krauß in zwei Gruppen: die Stammkundschaft und die Laien. „Der Normalbürger“ komme im September und Oktober. Da sei der Wind in der Regel zwar am kräftigsten, so Krauß, doch für die „Drachenfuzzis“ sei das ganze Jahr über Saison. „Wir lassen die Drachen nicht im Herbst, sondern im Wind fliegen“, erklärt er. Laien empfiehlt Krauß „unzerstörbare Standdrachen“, die nur aus einem Stück Stoff bestehen und durch den Wind aufgebläht werden. Da kann selbst ein Anfänger keinen Schaden anstellen. Krauß kennt sich aus mit Drachen. Der gelernte Modellbautechniker hat zu Hause eine Sammlung von etwa 70 Drachen. Schon zu DDR-Zeiten war er nebenberuflich im Drachengeschäft tätig. Ein Frührentner hat seine für den Westmarkt gefertigten Drachengestänge über die Grenze gebracht.

Wie bei jedem Spiel gibt es auch beim Drachenfliegen Regeln: Die Luftfahrtbehörde schreibt eine maximale Flughöhe von achtzig Metern vor, Hochspannungsleitungen und der Umkreis von fünf Kilometern von Flughäfen sind Tabuzonen für Drachen, auch wenn sie Namen wie „Billy the Kid“, „Delta Hawk“ oder „Große Schneeflocke“ tragen. Bei Gewitter sollte man den Drachen zu Hause lassen, auch wenn es mittlerweile große Modelle gibt, die mit Porzellanisolatoren ausgestattet sind. Auch eine Versicherung ist ratsam. Nicht selten komme es vor, so Krauß, daß ein aus der Bahn geworfener Drachen zu Autokarambolagen führt. „Und ein Lenkdrachen kann schnell ein Ohr abschneiden“, fügt er hinzu. Geschwindigkeiten bis einhundert Kilometern pro Stunde seien keine Seltenheit.

Ob Freizeitspaß oder Sport, dem Einsatz von Drachen sind kaum Grenzen gesetzt. So werden in der Luftphotographie sogenannte Rokkakusse, japanische Sechsecke, verwendet, an denen man Kameras befestigen kann, die mit Hilfe einer Fernsteuerung und Servusmotoren betätigt werden. Weil diese Standdrachen „wie angenagelt am Himmel stehen“, erklärt Krauß, kann die Kamera problemlos rund um die Längs- und Querachse scharfe Fotos schießen.

Längst ist das Drachensteigen nicht mehr nur ein Sonntagnachmittagsvergnügen. Bei Lenkdrachen-Meisterschaften werden bei den Klängen selbstgewählter Musik Pflicht- und Kürprogramme absolviert. Da werden hoch in der Luft Figuren mit Namen wie „Heartbeats“, „The Bulb“, „Soup- can“ oder „Blow tie“ geflogen.

Die klassischen Drachenplätze in der Stadt meidet Krauß. Der Teufelsberg sei zwar ein sehr schöner Flugplatz, „doch leider wissen das viele“. Krauß empfiehlt die Freizeitparks Marienfelde und Lübars, den Mont Klamott in Friedrichshain und den ehemaligen Grenzstreifen im Süden der Stadt. Seine Lieblingsplätze verrät Krauß nicht. Nur, warum er sie toll findet: „Da kann ich dem Alltag entfliehen. Ich gucke dem Drachen zu, während ein Käfer über meinen Bauch krabbelt“, schwärmt er. „Das ist Balsam für die Seele.“ Barbara Bollwahn

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