Dokumente zum Afghanistan-Einsatz: Logbuch des Krieges
Die Militär-Dokumente belegen, dass es eine geheime US-Einheit in Afghanistan gibt, die Taliban gezielt jagt und tötet. Damit werden die PR-Strategen widerlegt.
Die von Wikileaks an diesem Montag verbreiteten und von den Medien The New York Times, The Guardian und Der Spiegel vorab wochenlang gesichteten 91.731 internen und zum Teil als geheim gekennzeichneten Dokumente des US-Militärs zeichnen ein düstereres Bild des Krieges am Hindukusch, als es seine westlichen Protagonisten bisher je gemalt haben.
Der Krieg verläuft demnach weit schlechter, als von der Nato verkündet, die westlichen Militärs agieren in dem Konflikt naiver und die bewaffneten Gegner der afghanischen Regierung dagegen brutaler und geschickter, als es in westlichen Hauptstädten bisher dargestellt wurde. Zugleich zeichnen die Dokumente von den afghanischen Sicherheitskräften, die laut Beschluss der Kabuler Außenministerkonferenz vor einer Woche ab 2014 die volle Verantwortung für das Land übernehmen sollen, ein hoffnungslos desolates Bild.
Die Berichte von Militärs an der Front und von Geheimdienstoffizieren und -analysten in Afghanistan, die laut der drei Medien authentisch sind und den Zeitraum vom 1. Januar 2004 bis 31. Dezember 2009 abdecken, beschreiben kein komplett neues Bild des Konflikts. Aber die von Militärjargon und Abkürzungen nur so strotzenden Dokumente zeigen, dass die PR-Strategen oft nicht die volle Wahrheit sagten und der Krieg weit schmutziger und brutaler ist, als viele befürchtet haben. Damit haben die Enthüllungen das Potenzial, die wachsende Unbeliebtheit des Kriegs in den Truppenstellerländern weiter zu erhöhnen und die ohnehin angekratzte Glaubwürdigkeit seiner Protagonisten weiter zu untergraben.
Die offiziellen Militärdokumente enthüllen auch einige Fakten, die so nicht bekannt waren, oder sie geben bisherigen Vermutungen einen offiziellen Charakter und damit mehr Gewissheit.
Dazu gehören: Das US-Militär betreibt eine "Task Force 373" genannte Sondereinheit zur gezielten Tötung oder Gefangennahme von etwa 70 hochrangigen Führern von al-Qaida, den Taliban oder anderen Feinden sowie Drogenbaronen. Die Truppe, von der 300 Mann auch im deutschen Feldlager Marmal in Masar-i-Scharif stationiert sind, besteht aus Spezialkräften unter anderem der Delta Force und Navy Seals. Diese abgeschirmt von anderen Soldaten operierende Truppe untersteht weder dem Kommando der internationalen Schutzstruppe Isaf noch dem zuständigen US-Regionalkommando Centcom, sondern direkt dem Pentagon. Die Task Force 373 wird unter der Obama-Regierung viel stärker eingesetzt als unter Bush. Die Dokumente enthalten laut Spiegel 84 Meldungen über solche Operationen.
Die Taliban und andere bewaffnete Regierungsgegner verfügen über größere militärische Fähigkeiten und bessere Bewaffnung, als US-Militärs und Nato bisher zugegeben haben. So verfügen sie über tragbare hitzegeleitete Flugabwehrraketen und haben damit bereits Hubschrauber abgeschossen, was von Nato-Sprechern öffentlich auf den Beschuss mit kleinkalibrigen Waffen zurückgeführt worden war. Die USA hatten in den 80er Jahren selbst die Mudschaheddin in ihrem Kampf gegen die sowjetischen Besatzer mit sogenannten Stinger-Raketen ausgerüstet, die zur Wende des Kriegs beitrugen. Doch dass solche Waffen bisher von den Taliban genutzt wurden, wurde offiziell bisher nicht bestätigt. Laut den Dokumenten setzten die Taliban diese Raketen bisher allerdings nicht sehr effektiv ein.
Laut den veröffentlichten Dokumenten hat es knapp 150 Fälle gegeben, bei denen Zivilisten versehentlich von US- oder Nato-Soldaten getötet oder verletzt wurden. Das sind laut Guardian weitaus mehr, als bisher eingeräumt wurde. Die Dokumente belegen zudem Fälle, in denen Operationen erschreckend schief gelaufen sind. Unter den Dokumenten ist laut Spiegel jedoch keines mit Informationen über bisher unbekannte Gewaltexzesse oder illegale Geheimoperationen unter Beteiligung deutscher Soldaten. Zugleich zeigen die Dokumente, dass auch die Taliban vermehrt zivile Opfer in Kauf nehmen.
Die Dokumente zeigen einen starken Anstieg des Einsatzes ferngesteuerter Drohnen zur Luftaufklärung sowie für Luftangriffe. Daraus geht auch hervor, dass die teuren Flugkörper nicht die gepriesene Wunderwaffe sind, sondern weit unzuverlässiger als bisher behauptet und zur Bergung und Sicherung ihrer Technik Soldaten oft unverantwortlich hohe Risiken eingehen müssen. Dabei soll der unter Obama stark forcierte Einsatz der unbemannten Drohnen eigentlich Soldaten gerade vor solch riskanten Einsätzen schützen.
Einige Dokumente zeigen die direkte Verwicklung von Agenten des pakistanischen Geheimdienstes ISI in die Planung und Durchführung von Anschlägen, in die Lieferung von Ausrüstung und Waffen an die Taliban oder das Haqqani-Netzwerk sowie eine Schlüsselrolle des früheren ISI-Chefs Hamid Gul. Doch die Glaubwürdigkeit einiger dieser Pakistan stark belastenden Berichte wird in den Dokumenten selbst als nicht zweifelsfrei dargestellt und sie könnten von afghanischen Geheimdienstquellen lanciert oder manipuliert worden sein.
Die Dokumente beschreiben laut Guardian auch hunderte von Grenzscharmützeln zwischen afghanischen und pakistanischen Truppen entlang der sogenannten Durand-Linie und damit weit mehr als bisher bekannt. Die vor 117 Jahren von der britischen Kolonialmacht festgelegte Grenze wird von Afghanistan offiziell nicht anerkannt und ist aufgrund des schwierigen Geländes kaum markiert und kaum zu kontrollieren. Die Region beiderseits der Grenze ist ein wichtiges Rückzugsgebiet der Taliban und auch auf pakistanischer Seite ein wichtiges Einsatzgebiet von US-Drohnen.
Die drei Medien, denen die Dokumente von Wikileaks als Erstes vorgelegt wurden, charakterisieren sie als Logbuch des Kriegs aus der Sicht derjenigen, die ihn auf Seiten von USA und Nato kämpfen. Sie zeigen, wie die Taliban und Kämpfer des Warlords Gulbuddin Hekmatjar und des Haqqani-Netzwerks im Raum Kundus, wo die Bundeswehr operiert, Fuß fassen, indem sie einen Keil zwischen die Bevölkerung und Bundeswehr treiben und dann den bewaffneten Widerstand erfolgreich eskalieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz