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■ DokumentationErklärung von Avignon

Wir, die Festivalteilnehmer, die sich in Avignon versammelt haben, wollen angesichts der Desertation der Demokratien nicht vor dem Schlimmsten resignieren und geben folgende Erklärung von Avignon zur Kenntnis.

Seit dem Juni 1995, vier Jahre nach dem Ausbruch des Krieges in Ex-Jugoslawien, stellen die bewaffneten Banden von Pale, unterderhand vom Regime in Belgrad manövriert und überzeugt, daß sie bei der Verfolgung ihrer Ziele keinen Widerstand vorfinden werden, offen ihre Methoden der Kriegsführung zur Schau.

Die massive Durchführung von „ethnischen Säuberungen“, vom faschistischen Regime der proklamierten „Republik“ der bosnischen Serben beschlossen, ist in vollem Schwange. Zehntausende von Frauen und Kindern werden aus den UNO-Schutzzonen vertrieben und auf die Straßen geworfen, während die Männer zwischen 30 und 60 Jahren außerhalb jeder internationalen Kontrolle gefangengenommen werden. (...) Wir erinnern daran, daß der Begriff „ethnische Säuberung“ Folter, Vergewaltigung, Deportation und Vernichtung bedeutet, das heißt: ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Wir sind überzeugt, daß diese neue Kraftprobe eine dramatische Wende in der langen Geschichte des Krieges in Ex-Jugoslawien ist. Wenn die Demokratien nicht schnell reagieren, wird man bald von einem neuen München sprechen können. (...) Man wird am Ende die Annullierung der Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen, des Internationalen Rechts, des Rechts überhaupt, zu Protokoll nehmen.

(...) Wir müssen den europäischen Regierungen das Recht auf die Ohnmacht absprechen, das sie in Anspruch nehmen, als wären sie Individuen. (...)

In Wahrheit gibt es keine politische Ohnmacht, keine militärische Ohnmacht, keine moralische Ohnmacht, sondern Entscheidungen, die Irrtümer sind, und die es jetzt zu korrigieren gilt, um das Verbrechen aufzuhalten.

(...) Wir fordern, daß das politische und militärische Handeln einen wirklichen Wandel der Kräfteverhältnise betreibt, um die Vernichtung der UNO-Schutzzonen aufzuhalten, die Belagerung Sarajevos endgültig aufzuheben und den Frieden zu erzwingen.

1. Butros Butros Ghali, der nicht für die ethnische Säuberung sein kann, muß zurücktreten, um gegen die Heuchelei jener Regierungen zu protestieren, die die Mittel für eine prinzipientreue Politik verweigern. Wir fordern die unverzügliche Demission des Generalsekretärs der UNO als Zeugnis seiner Ohnmacht, symbolischen Akt zur Wiederherstellung der Würde seines Amtes, und um förmlich festzustellen, daß die UNO in Gefahr ist.

2. Wir fordern, daß der Haager Gerichtshof unverzüglich Schritte gegen die für die „ethnischen Säuberungen“ von Srebrenica Verantwortlichen ergreift, deren Identität öffentlich bekannt ist.

3. Da es anerkannt ist, daß der Rückzug der Blauhelme eine unabschätzbare Katastrophe für die Glaubwürdigkeit, die Werte und Zukunft der Demokratien bedeuten würde, fordern wir die französische Regierung auf, von der ständigen Drohung mit diesem Rückzug abzulassen, die nur ohnmächtige Erpressung ist, unwürdig einer prinzipientreuen Politik.

4. Da der Internationale Gerichtshof in Den Haag dabei ist, zu beweisen, daß Milošević und Karadžić eine strategische Allianz bilden und Komplizen beim Projekt eines „Großserbien“ und bei der „ethnischen Säuberung“ sind, fordern wir, daß man der sterilen Diplomatie ein Ende setzt, die zwischen ihnen zu unterscheiden sucht, und daß der Druck der internationalen Gemeinschaft auf Serbien bis zum Frieden aufrechterhalten wird.

5. Wenn die Republik von Pale von der UNO niemals anerkannt worden ist, dann deshalb, weil sie ständig die Prinzipien der Charta verletzt hat. Die Republik von Bosnien-Herzegowina, die mit einer Verfassung versehen ist, die demokratischen Prinzipien entspricht und die Koexistenz der Gemeinschaften gewährleistet, die sie konstituieren, ist Mitglied der UNO. Es ist eine Pflicht, sie zu verteidigen. (...) Wir bekräftigen die Legitimität jeder Hilfe, die den bosnischen Widerständlern in ihrem Kampf gegen die Expansion des faschistischen Regimes von Pale gewährt wird.

Wenn diese Forderungen im Zeitraum einer Woche, beginnend mit dem 20. Juli 1995, keine Folgen zeitigen, werden einige Unterzeichnete einen europaweiten Hungerstreik beginnen, der Tag für Tag die Komplizenschaft unserer Regierungen mit der Barbarei offenlegen wird.

Merce Cunningham (Choreograph), Jacques Derrida (Philosoph), Robert Wilson (Regie), Ariane Mnouchkine (Regie), Bernard Faivre d' Arcier (Festivalleiter), Jean-Louis Martinelli (Intendant Straßbourg), François Tanguy (Regie), Olivier Py (Regie), Thierry Roisin (Regie)

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