: Doch kein rassistischer Mord?
Bürgermeister beklagt wirtschaftliche Einbußen und Imageverlust des Städtchens Sebnitz. Zeugen erhielten kleine Geldsummen von Mutter. Niemand hatte das Geschehen tatsächlich beobachtet. Biedenkopf rügt Kriminologen
von KARSTEN NEUSCHWENDER
Sebnitz lechzt nach Normalität. Der Fall Joseph Abdulla bedeute einen „riesengroßen materiellen und immateriellen Schaden“, klagt Bürgermeister Mike Ruckh (CDU). Sebnitzer Unternehmen hätten Probleme beim Verkauf ihrer Produkte, Reisegruppen sagten ab und Hotelbetten würden storniert. „Der Image-, Wirtschafts- und auch seelische Schaden muss rasch wieder von der Stadt genommen werden.“
Die Familie Kantelberg-Abdulla verwische in ihrer Trauer wahrscheinlich „die Grenzen von Wirklichkeit“, erklärte der Bürgermeister. Gleich nach deren Freilassung empfing Ruckh die bisherigen Tatverdächtigen samt Familien.
Nach der polizeilichen Vernehmung von Zeugen sei der Beweiswert ihrer früheren schriftlichen Erklärungen in Frage zu stellen, teilte die Dresdner Staatsanwaltschaft gestern mit. Die Vernehmung der Zeugen habe ergeben, dass keiner von ihnen das Geschehen um den Tod des sechsjährigen Jungen im Sebnitzer Schwimmbad vor drei Jahren selbst beobachtet habe, hieß es von der Staatsanwaltschaft. Keiner der Zeugen habe Skinheads im Bad wahrgenommen.
„Sämtliche Zeugen haben erklärt, dass die schriftlichen Erklärungen auf suggestive Befragung durch die Eltern des Joseph zurückzuführen seien“, heißt es in der Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Zudem hätten die Zeugen erklärt, auf Grund ihrer schriftlichen Angaben gegenüber den Eltern von ihnen zum Teil mehrfach kleine Geldsummen erhalten zu haben. Nach den von Josephs Eltern vorgelegten Erklärungen von 15 Zeugen soll der kleine Junge im Juni 1997 im Sebnitzer Schwimmbad von Neonazis misshandelt und ertränkt worden sein.
Renate Kantelberg-Abdulla, die Mutter des vor drei Jahren ums Leben gekommenen Joseph, hatte die Vorwürfe zurückgewiesen, die Zeugen beeinflusst oder bestochen zu haben. Die Gespräche hätten allerdings sehr lange gedauert. Zum Dank habe sie den Zeugen dafür „Rachendrachen“ geschenkt und teilweise Geld für Zigaretten gegeben, als „Dank, dass sie bei uns waren“.
Sachsens Justiz wehrt sich gegen den Vorwurf, im Fall Joseph unprofessionell ermittelt zu haben. „Die Ermittlungen sind schon weiter, als man aus ermittlungstaktischen Gründen bekannt geben kann“, sagte gestern Sachsens Justizminister Manfred Kolbe (CDU). Derzeit prüft das Ministerium auch, ob der Vorwurf des Kriminologischen Institutes Niedersachsens, die Zeugen anfangs nicht genügend befragt zu haben, zurückgewiesen werden könne.
Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf hat indessen den Leiter des niedersächsischen Instituts, Christian Pfeiffer, scharf angegriffen. Das Gutachten aus dessen Forschungsinstitut weise klare Mängel auf. So habe Pfeiffer offenbar nicht bemerkt, dass die von den Eltern vorgelegten Berichte von etwa 15 Augenzeugen möglicherweise nicht der Wahrheit entsprechen. Seit gestern ermittelt die Staatsanwaltschaft Dresden wegen des Verdachtes auf Volksverhetzung. Generalstaatsanwalt Jörg Schwalm betonte jedoch ausdrücklich, dass sich die Ermittlungen nicht gegen die verhafteten und inzwischen wieder freigelassenen zwei Männer und eine Frau handelt. Seine Behörde sei von Bürgermeister Ruckh auf das elektronische Gästebuch der Stadt Sebnitz aufmerksam gemacht worden. Neben Medienschelte, Anteilnahme und Gedichten des evangelischen Theologen Martin Niemöller oder aus der Carmina Burana gibt es im elektronischen Gästebuch auch rechts- und linksextremistische Eintragungen mit teilweise beleidigendem oder volksverhetzendem Charakter. „Die Frau Abdulla ist doch geschmiert. Sie nutzt den tragischen Tod ihres Sohnes aus, um gegen Deutschland zu hetzen und unsere Politiker machen fleißig mit. Hängt diese Volksverräter!“ fordert einer.
Die Staatsanwaltschaft hat auf Grund von Presseberichten, wonach die Eltern von Joseph am Wochende bedroht worden sein sollen, ein Verfahren eingeleitet, in dem wegen Bedrohung und Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen ermittelt wird.
Die Beurlaubung des evangelischen Pfarrers Konrad Creutz aus Sebnitz ist unterdessen aufgehoben worden. Creutz hatte den Eltern von Joseph eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht unterstellt und wurde daraufhin vom Dienst suspendiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen