: „Die zweite Katastrophe war das von Moskau verordnete Schweigen“
■ Irina Gruschewaja arbeitet im Komitee „Kinder von Tschernobyl“ und koordiniert im Rahmen der Hilfsaktionen die Kontakte mit dem westlichen Ausland INTERVIEW
taz: Frau Gruschewaja, warum hört man über die sowjetischen Medien fast nichts über die Arbeit Ihres Komitees?
Irina Gruschewaja: Das Komitee „Kinder von Tschnernobyl“ ist im Rahmen der Bürgerbewegung „Belorussische Volksfront“ entstanden, eine Bürgerbewegung, die die Republik demokratisch umgestalten will. Ihr Gründungskongreß fand vor zwei Jahren im Exil statt — in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Hier in Belorußland durfte man nicht, die Volksfront wurde als gesellschaftliche Organisation nicht offiziell anerkannt. Somit existierte auch das „Komitee“ für die Behörden nicht.
Wie sind Sie zum Komitee gekommen?
Ich habe nicht gleich mitgearbeitet. Ich habe eine Familie, zwei Kinder. Außerdem war ich immer gegen die Politik. Ich dachte, sie sei eine schmutzige Sache. Auch meinen Mann wollte ich immer davon überzeugen, er solle das lassen. Vor einem Jahr hatte ich noch nicht begriffen, daß man politisch werden muß, wenn man die Leute retten will. Im September 1989 organisierten unser Komitee und die Volksfront einen Protestmarsch, den „Tschernobyler Weg“. Gennadi, mein Mann, wurde für die Organisation dieser Aktion verurteilt.
Was unterscheidet euch von staatlichen oder anderen offiziellen Hilfsorganisationen?
Wenn unser Komitee etwas tut, dann gibt es praktisch keine Presse. Warum? Weil wir völlig unabhängig sind, weil wir die Forderungen stellten: sofortige Hilfe, keine Projekte, bei denen man nicht weiß, was mit dem gespendeten Geld passiert. Und weil wir bis heute die Position vertreten, daß die Leute wissen müssen, was geschieht. Diejenigen, die an der zweiten Katastrophe — ich meine das von Moskau verordnete Schweigen — Schuld haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden. Wenn man in den ersten Tagen nach der Reaktorkatastrophe die Menschen gewarnt hätte, wären heute die Auswirkungen nicht so schrecklich. Informationen aus der „Zone“ zu bekommen, ist nach wie vor problematisch. Unser Komitee wurde dort aufgehalten, behindert. Die Menschen weinten, als sie hörten, was in der „Zone“ passierte. Viele hatten ja Verwandte da, niemand wußte, wie gefährlich es dort war. Was konnten die Leute machen. Es war kalt. Irgendwie mußten sie aber ihre Häuser warm bekommen. Sie verbrannten Holz, ihre Öfen wurden zu kleinen Reaktoren. ... Es gab niemanden, der sich darum kümmerte. Wir hatten heimlich unsere Leute nach Choiniki, 50 Kilometer vom Reaktor entfernt, geschickt, um von dort 25 Kinder zur Genesung nach Indien zu schicken. Das war vor einem Jahr, am 20. Dezember. Hier hatte eine Organisation etwas geschafft, die überhaupt nichts hatte, über kein Geld verfügte. Das war natürlich eine Herausforderung für die örtlichen Behörden.
Wann wurde das Tabu Tschernobyl gebrochen, und warum geschah das nur zum Teil?
Erst im Frühjahr 1990, vier Jahre nach der Katastrophe, wurde die Region zu einem Notstandsgebiet erklärt. Zuerst gab es einen Schock: Die Menschen versuchten, sich anders zu ernähren, anders zu leben, aber es gab nichts anderes. So wie es auch heute nichts anderes gibt. Außerdem wurden sie immer beschwichtigt. Wie auch heute noch. Selbst wenn sie aus den verseuchten Zonen herauswollen, bleibt die drückende Frage nach dem Wohin. Zusätzlich bekommen sie ein „Sarggeld“, ein Zuschuß zu den normalen Gehältern. Und das hält sie fest. Natürlich kann man damit keine unbelasteten Lebensmittel kaufen, aber es beruhigt. Erst in diesem Jahr hat man verfügt, daß die Kinder nicht mehr in geschlossenen Räumen bleiben müssen, sondern, wenn auch unter Aufsicht, ins Freie dürfen. Wenn man diesen Leuten, die für das alles zuständig sind, glaubt, ist das dort ein wahres Paradies. Als ich den Schuldirektor von Korma reden hörte, konnte ich mich nicht zurückhalten und fragte, wozu wir denn noch Hilfe bräuchten, wo es doch so schön bei ihnen sei. Da stand eine Lehrerin auf und sagte: Ja, es ist gut hier. Die Kinder bekommen Gemüse, Zitronen, Äpfel und gute Nahrung. Aber wir essen eben alles, was bei uns hier wächst, sagte sie, und: Bei mir auf dem Hof ist die Verstrahlung 150 Curie (1 Curie pro Quadratkilometer = 37.000 Bq pro Quadratmeter).
Noch gefährlicher als die äußere ist die innere Verstrahlung. Strontium gelangt über Lebensmittel in den Körper und in die Knochen — und bleibt dort für Jahre...
Strontiumwerte wurden fast nicht gemessen. Jetzt will die deutsche Regierung Meßgeräte liefern. Das Geld für diese Ganzkörperzähler müßte man meiner Meinung nach ganz anders verwenden. Sinnvoller wären zum Beispiel Geräte, mit denen wir Lebensmittel testen könnten. Weil schließlich das, was wir essen, das Wichtigste ist. Das ganze Leben steht doch unter dem Zeichen der Radioaktivität. Schwangere Frauen fragen sich, was sie für ein Kind bekommen, ob es gesund sein wird. Alle, die Kinder haben, machen sich Sorgen, womit sie sie ernähren sollen. Und dann die Sorge, wenn das Kind sich unwohl fühlt: Hat es vielleicht schon Leukämie?
Und die Schwächung des Immunsystems...
Neben Leukämie macht uns das radioaktive oder Tschernobyl-Aids-Syndrom zu schaffen. Hiervon sind zuallererst Kinder betroffen. Die Menschen erkranken hier an Bronchitis, Asthma sowie anderen, normalerweise harmlosen Krankheiten und sterben daran. Niemand will diese Tatsache in Zusammenhang mit der Radioaktivität bringen. Das werden die Leute erst dann tun, wenn so viele gestorben sind, daß es nicht mehr wegzureden ist. Außerdem gibt es noch andere Faktoren, chemische Gifte und Nitrate, die schon im Zusammenhang mit einer verhältnismäßig geringen Radioaktivität mögliche Folgen potenzieren.
Warum haben die Ärzte geschwiegen?
Bis zum Frühling 1990 war es den Ärzten verboten, ihre Diagnosen in Verbindung mit Radioaktivität zu bringen. Das war eine geheime Anordnung, die später veröffentlicht wurde. Noch heute haben viele Ärzte Angst, eine solche Verbindung herzustellen. Daher ist es verständlich, daß unser Komitee immer Schwierigkeiten bekam, wenn solche Informationen gesammelt wurden. In Choiniki zum Beispiel gibt es eine Klinik mit sehr vielen Fällen von Mißbildungen. Es ist uns gelungen, heimlich Aufnahmen von diesen Kindern zu machen und sie im Westen zu veröffentlichen. In den vergangenen zehn Monaten sind allein in diesem Ort 31 mißgebildete Kinder zur Welt gekommen. Und noch immer versuchen die Behörden den Zusammenhang mit der Katastrophe zu leugnen. Nichts von alledem sei bewiesen, so die offizielle Meinung — allen voran der Moskauer Wissenschaftler Iljin von der Akademie der Wissenschaften, der gemeinsam mit Leuten von der Internationalen Atomaufsichtsbehörde, der Atomlobby also, die Möglichkeit menschlichen Lebens mit Einschränkungen in den belasteten Gebieten postulierte. Diese 35 Rem Konzeption pro Menschenleben als verträgliche Dosis wird auch heute noch von Moskau verteidigt. Praktisch bedeutet das das Todesurteil für das belorussische Volk.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen