: Die wirkliche Monarchie Europas
Der Westen geht hinterm Rhein weiter/ Journalisten aus den neuen Bundesländern zu Besuch in Frankreich, eingeladen vom „Bureau International de Liaison et de Documentation“ ■ Aus Paris Irina Grabowski
In aller Herrgottsfrühe spuckt uns die stinkende Pariser Metro am Place Pigalle aus. Müde blinzelt das Moulin Rouge herüber, die Peepshows ziehen die Schwänze ein. Schwarze Männer in grüner Montur schaufeln unsägliche Müllberge von der Straße.
Hunderte Kilometer vom Alltagstrott im deutschen Osten entfernt, beziehen wir Quartier im Rotlichtviertel der französischen Hauptstadt. Noch wissen wir nicht, daß dies nur der erste kleine Farbtupfer im offiziellen Mammutprogramm sein wird. Eingeladen hat uns — 15 junge Journalisten aus den neuen Bundesländern — das „Bureau International de Liaison et de Documentation“. Im Sommer 1945 in der französischen Besatzungszone von einem Militärgeistlichen gegründet, ist es die älteste unabhängige Assoziation für deutsch-französische Zusammenarbeit. Der Historiker und Germanist Joseph Rovan ist die Seele des Geschäfts. Wegen seiner jüdischen Herkunft mußte er 1933 Deutschland in Richtung Frankreich verlassen und wurde später als Soldat des Widerstands im KZ Dachau gefangenhalten.
Hoch rechnet es sich der emeritierte Sorbonne-Professor an, zu DDR-Zeiten nie auf Freundschaft mit den SED-Herrschern gemacht zu haben. Doch nach der Wende hat auch Rovan, dem allgemeinen Trend folgend, die Fühler gen Osten ausgestreckt. Aus Dutzenden Kontakten — sogar der abgesägte Premier Rocard soll einst unter Rovans prüfendem Blick das Staatsexamen abgelegt haben — knüpfte die 73jährige Eminenz einen Crash-Kurs über zehn Tage, der uns bis ins Department Savoie am Fuße der Alpen führte.
Empfang bei der Commerzbankschwester Credit Loyonnais, Besuch in Käse- und Drehteilfabriken, Pfötchendrücken beim Bürgermeister, Plauderei im Elysee — nur eine kühle Morgenstunde bleibt für den Flirt mit den Totengräbern von Père Lachaise in Paris, wo unter wuchtigen und bizarren, erhabenen und scheußlichen Grabmalen die Gebeine von Moliere, Balzac, Chopin, Edith Piaf und James Douglas Morrison ruhen. Überschüttet mit Fakten und Eindrücken bleiben die ausgiebigen Mittag- und Abendessen, eine liebe Gewohnheit vieler Franzosen, als Rettungsanker. Bei würziger Pastete, saftigem Fleisch und halbtrockenem Wein lassen wir uns die Gespräche mit den geladenen Gästen auf der Zunge zergehen. Ansonsten folgt die sprachamputierte Meute ergeben ihrem vorzüglichen Begleiter. Selten nur kommt eine Begegnung außerhalb des Protokolls zustande.
„Wir sind die einzige wirkliche Monarchie in Europa“
Zum Beispiel mit Michel. Nur kurz können wir sie in ein Café entführen, bevor sie sich wieder an den Schreibtisch setzt. Sie hat es geschafft: Als Studentin an einer Grand Ecole, einer der begehrten Eliteschulen, hat sie den Vertrag als Beamtin auf Zeit in der Tasche. Nach einheitlicher Grund- und Mittelschule das Abitur — das ist der normale Weg für Frankreichs aufstrebende Jugend. Dann beginnt, früher als in Deutschland, das Gerangel um die Karriere. An den Pariser Massen-Unis mit über einer Millionen Studenten bleibt die Hälfte schon nach einem Jahr auf der Strecke. Es werden nicht gemächlich „Scheine“ gesammelt, sondern im harten Ein-Jahres-Rhythmus Prüfungen absolviert. Nur 30.000 jungen Leuten gelingt nach zwei Jahren Vorbereitung und einem nervenzerrenden Wettbewerb der Sprung auf die Elitenschulen. Wer dort wie Michel zum Staatsexamen zugelassen wird, dem ist ein hochdotierter Job sicher. Der große Rest zerfleischt sich in Analysen der eigenen Niederlage. Menschenfreundlicher, meint Michel, sei das Studentenleben in Deutschland und viel entspannter. Alternativlos würde wer es zu etwas bringen wolle dem Abiturkult der Regierung ausgesetzt. Danach sollen bis zum Jahr 2000 rund 80 Prozent (bisher sind es 40 Prozent) der Kids das Abitur ablegen. Gleiche Bildungschancen für alle ist das Motto. Und wer den Einzug in die Uni nicht verkraftet, darf sich gehörig als Versager fühlen. Auf die Berufsausbildung auszuweichen bringe wenig Punkte. Sie gehe, so Michel, als zentral organisiertes Angebot am Arbeitsmarkt vorbei und sei entsprechend schädlich fürs Image. Das System ist verkorkst, doch die Zeit machtvoller Proteste vorbei. Vor fünf Jahren sind die Studenten das letzte Mal auf die Straße gegangen — gegen das Vorsortieren nach dem Numerus clausus. Hin und wieder geistern die Schüler-Demos in den Pariser Vorstädten durch die Presse. Dort protestieren vor allem die Kinder nordafrikanischer Einwanderer gegen Ausgrenzung und soziale Benachteiligung. Die Illusion, durch spontane Aktionen die Welt zu verbessern, pflichtet Professor Rovan bei, sei nach 1968 angesichts einer behäbigen Scheindemokratie verblaßt. „Wir sind die einzige wirkliche Monarchie in Europa“, lästert der Professor über die Machtfülle des Präsidenten und seiner Zentralregierung. Paris als der Nabel Frankreichs bindet nicht nur das Bildungssystem an zentralistische Entscheidungen. Auch die Fleischtöpfe für die Medien und die Regionen stehen an der Seine.
„Identitätsträger und Grundzelle der Demokratie“
Sattsam bekannt ist uns das Dilemma des Zentralismus. Doch in Frankreich treibt er andere Blüten. Monsieur Frederic Hartweg weiht uns ein. Dem massiven Regierungsapparat in Paris steht eine in 93 Departments und 36.000 Kommunen (das übrige Westeuropa hat insgesamt 34.000) zersplitterte Regional„macht“ gegenüber. Die Gemeinde, hoch gelobt als Identitätsträger und „Grundzelle der Demokratie“, wurde noch vor zehn Jahren vom Vertreter der Regierung, dem Präfekten, kontrolliert. Der darf sich jetzt nicht mehr in die kommunale Steuererhebung und Ausgaben einmischen. Doch immerhin kann er Beschlüsse des Gemeinderates, die ihm nicht passen, vor dem Verwaltungsgericht anzweifeln. Ab 1983 wurden die Departments in 22 Regionen zusammengefaßt. Doch mit ihrem schmalen Budget sind sie auf die Gnade der Departmentspotentaten angewiesen, die ihrerseits kaum Lust verspüren, sich eigenhändig zu demontieren. Und während die deutschen Bundesländer in der EG ihre Lobby aufbauen, haben die schwächlichen Regionen Frankreichs das Nachsehen. Qualifiziertes Regionalpersonal macht sich rar, die Bürgermeister sind mit Mandaten überhäuft. An unserer letzten Station im Department Savoie treffen wir Bernhard Bossonden, Bürgermeister der 50.000-Seelen-Stadt Annecy. Allein von seinem Job könne er nicht leben. Er verdient sich seine Brötchen als Abgeordneter und Jurist. Am liebsten würde er, was allgemein üblich ist, wiedermal einen Ministerposten in Paris ergattern. Dann ist er viel näher am großen Kuchen und kann manchen fetten Happen für seine Stadt herausschlagen.
Das Mediendilemma am langen Arm von Paris
Auch die Medien in der Provinz hängen zum großen Teil am ausgestreckten Arm der Hauptstadt. Während dort mit einem guten Dutzend nationaler Tageszeitungen und Magazine eine gewisse Vielfalt herrscht, klagen die Schreiberlinge in den anderen Landesteilen über das Austrocknen der Presselandschaft. 50 Rundfunksender tummeln sich in Paris. Die Provinzen zehren von den nationalen, in der Mehrzahl staatlich finanzierten Kanälen. Vor zehn Jahren aufkeimende Bürgerradios wurden kurzerhand von der Frequenzliste gestrichen. Unbeirrt und gutgelaunt erscheint Patrice Mallet dennoch wochentags im Studio von „8 Mont Blanc“, einem Privatsender, der von Annecy aus rund 800.000 Zuschauer erreicht. Seit Februar 1989 wird ein Programm gesendet, das neben Nachrichten und Reportagen, mit Sponsoring-Magazinen und Werbefilmen gefüllt wird. Patrice moderiert mit hinreißender Improvisationsgabe und Nervenstärke das Abendjournal. Die feststehenden Kameras bedient er selbst per Knopfdruck — ein Alptraum für jeden halbwegs anspruchsvollen Regisseur. Aber gering in den Kosten. Die Monotonie der Bildfolge soll durch das bunte Angebot an Lokalinformationen und stadtbekannten Gesprächspartnern kompensiert werden. Die Bevölkerung quittiert dieses Angebot mit hohen Einschaltquoten. Regionales Privatfernsehen gibt es nur noch in Toulouse und Lyon.
Est-allemands als Klotz am Bein?
Nur eine kleine Tür zur französischen Gesellschaft hat sich für uns geöffnet. Allenthalben scheint man den „est-allemands“ gewogen. Hoffentlich nicht nur deshalb, weil der ostdeutsche Markt das Konjunkturtief französischer Unternehmen mildern half. Manchmal klang eine kleine Furcht an, die Ex-DDRler könnten mit ihrer wenig ausgeprägten europäischen Sicht auf dem Weg zum gemeinsamen Haus zum Klotz am Bein werden. Monsieur Hartweg rät uns, den Westen nicht allein am Beispiel der Altbundesrepublik zu studieren. „Die Umarmung mit dem großen Bruder kann tödlich sein“, nehmen wir seinen Abschiedsgruß mit nach Hause.
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