: Die spinnen, diese Terraner
Historischer Countdown zur Fußball-Europameisterschaft (Teil 5): Beim merkantilen Soccer der Neuzeit mutiert der Homo kickensis zum Herdentier und stellt die Wissenschaft vor manches Rätsel
von PROF. HOLGER HIRSCH-WURZ
So ungefähr in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts trat eine Entwicklung ein, die sich zwar bereits angekündigt hatte, aber erst jetzt zu voller Blüte gelangte: die Entwicklung des gemeinen Soccer zum merkantilen Soccer. Wissenschaftler rätseln ja seit mindestens hundert Jahren, wieso ausgerechnet das geordnete Bewegen eines wegen seiner Kugelform äußerst widerspenstigen Gegenstandes mit den ungeeignetsten Extremitäten, den Füßen, einen derartigen weltweiten Erfolg haben kann. Physiologisch wäre ein Spiel mit Würfeln, die man zum Rollen bekommen möchte, kaum verwunderlicher.
In der angesprochenen Phase kam ein weiteres Rätsel hinzu: Warum finden Millionen, ja Milliarden von Menschen ein derartiges Vergnügen daran, sich zeternd vor eine flimmernde Kiste zu setzen, in der häufig 90 Minuten lang absolut nichts passiert. Man darf im Übrigen getrost davon ausgehen, dass es derartige Verhaltensweisen sind, die außeriridische Besucher bisher abgeschreckt haben, länger als fünf Minuten auf unserem Planeten zu verweilen. „Diese Terraner sind nicht ganz dicht“, stellten sie immer wieder aufs Neue fest, wenn sie im Laufe der Jahrhunderte in ein Ulama-, Kemari-, Calcio-fiorentino- oder Soccer-Match gerieten (siehe taz-Fußballhistorie 1–4), und düsten ab, so schnell es ihre Sternenstaubtriebwerke zuließen. Der mysteriöse Astronaut im Mayatempel von Palenque gibt davon ebenso Kunde wie geheime Nasa-Akten, die enthüllen, dass es die Ansicht eines lokalen Baseball-Matches war, welches die bei Roswell gelandeten Aliens stante pede vergraulte. Aber wir schweifen ab.
Inzwischen gibt es Indizien dafür, dass sogar das letzte vernünftige Volk schwach wird und auch die US-Amerikaner eine schleichende Annäherung an den Fußball in seiner merkantilen Phase vollführen, wenn auch eher an die weibliche als die loddaristische Variante. Die Wissenschaft steht dem jüngsten Erfolg des merkantilen Kickens jedenfalls relativ ratlos gegenüber, weshalb es angebracht ist, ein wenig Grundlagenforschung zu betreiben und sich der Lebensweise des modernen Homo kickensis zuzuwenden.
Dieser gibt sich stets als striktes Herdentier. Die Herde sei alles, behauptet er, er nur ein Herdenelftel. Er sagt immer, er möchte seinem Rudel „nur helfen“, was so klingt, als gehöre er eigentlich gar nicht dazu: eine klassische Form von Überunterordnung. Geht es allerdings um Herdenzutrittsverhandlungen („Vertragsgespräche“), ist der Homo kickensis einer der größten Individualisten, die die sportive Zoologie kennt.
Das gesteigerte voyeuristische Bedürfnis des Homo kickensis passivus hat in den Zeiten des merkantilen Soccer dazu geführt, dass die Homo kickensis blatterensis genannte Funktionärskaste, vergleichbar den Priestern beim alten mittelamerikanischen Ulama, die Zahl der Auftritte (Opferungen!) des Homo kickensis ins Unermessliche geschraubt hat. Dabei werden die am besten funktionierenden Kickensis-Verbände in jedem Jahr fast komplett neu zusammengestellt und müssen nahezu unentwegt ihrem Gewerbe nachgehen, so dass sie am Ende der „Saison“ genannten Fruchtbarkeitsperiode kaum noch krabbeln können.
Doch auch dann dürfen sie sich keine Ruhe gönnen. Die bestehenden Rudel werden brutal auseinander gerissen, nach archaischen nationalistischen Gesichtspunkten neu gruppiert und aufeinander gehetzt. Ein streng widernatürliches und artfremdes Verhalten. Dennoch sind die neuen Rudel beim Voyeurensis äußerst beliebt, weil es willfährige Lakaien der Hohepriester (Homo kickensis töpperwienis) verstehen, die Massen zu blenden und ihnen sozusagen Opium für das Volk in den Strohrum zu streuen.
Um die Angelegenheit nicht gar zu dröge werden zu lassen, haben sich die Blatterienser im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Reihe von grotesken Ritualen einfallen lassen, die das Geschehen beleben sollen. Der einzige Handspieler des Rudels darf nicht immer Hand spielen, der befahnte Depp an der Seitenlinie (töpperwienis bachramowski) heißt nicht mehr Richter, sondern Assistent, und wenn gar nichts mehr hilft, muss ein Golden Goal her. Das fällt zwar fast nie, aber wenn doch, sind alle enttäuscht, weil die Sache so schnell vorbei war.
Ist aber nicht so schlimm, weil sich angesichts der Fülle von Spielen und Toren sowieso niemand mehr irgendwelche Resultate merken kann. Oder weiß etwa noch jemand, wer Europameister 1996 geworden ist? Na sehn Sie.
(Wiss. Mitarbeiter: MATTI LIESKE und BERND MÜLLENDER vom Sonderforschungsbereich Kickensik euromodernis )
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