: „Die sowjetische Ökonomie ist von der Schattenwirtschaft bestimmt“
■ Interview mit Ulrich Weißenburger vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu den geplanten Marktreformen in der UdSSR
taz: Die jetzt in der Sowjetunion geplanten Preiserhöhungen werden damit begründet, daß die Einkommen in den letzten Jahren stark gestiegen seien, während sich die Produktion rückläufig entwickelte. Der Geldüberhang wird auf 150 Milliarden Rubel geschätzt. Jetzt sollen die Preise für Grundnahrungsmittel drastisch erhöhrt werden. Wird damit nur „überschüssiges“ Geld abgeschöpft, oder sinkt der Lebensstandard?
Ulrich Weißenburger: Daß der Lebensstandard generell sinkt, möchte ich bezweifeln, weil es schon jetzt viele Waren im Handel gar nicht mehr zu kaufen gibt. Durch die Diskrepanzen zwischen den Schwarzmarktpreisen und den offiziellen Preisen verschwindet vieles aus dem Handel und wird dann auf dem Schwarzen Markt verhökert, so daß zumindest bestimmte Bevölkerungsschichten, die keinen Zugang zu betriebseigenen Nahrungsmitteln haben, auch heute zu den offiziellen Preisen gar keine Waren kaufen können.
Welche Gruppen sind es, die wirklich auf die Nahrungsmittelsubventionen angewiesen sind?
Zunächst sozial Schwache, aber natürlich auch weniger verdienende Arbeiter und Angestellte.
In letzten Jahr sind die Subventionen für Nahrungsmittel noch einmal erhöht worden...
Ja, im Staatshaushalt sind die Subventionen fast mit 100 Milliarden Rubel veranschlagt worden.
Warum eigentlich?
Man wollte diese ohnehin schlechte Situation nicht noch zusätzlich mit Preiserhöhungen verschärfen und so die sozialen Spannungen erhöhen. Von daher hat man die Strategie verfolgt, von der Angebotsseite her den Markt zu entlasten, um die Versorgungslage zu verbessern und dann erst, wenn sich die Versorgungslage gebessert hat, die Preise zu erhöhen. Das hat offensichtlich nicht funktioniert. Im ersten Vierteljahr ist die Produktion rückläufig gewesen, und das Ungleichgewicht hat sich noch verstärkt.
Wird sich durch die Preiserhöhungen die Produktion verbessern?
Nein, die Preiserhöhungen sind für sich allein genommen keine Möglichkeit, auch nicht in der Sowjetunion. Das Problem ist eigentlich die Inkonsequenz und Inkonsistenz der Reformen. Man hat zwar den Betrieben mit dem Unternehmensgesetz mehr Spielräume gegeben und den administrativen wirtschaftlichen Mechanismus abgebaut, aber an dessen Stelle ist kein Marktmechanismus getreten. Es gibt keine Konkurrenz zwischen den Betrieben, es gibt nach wie vor die administrative Verteilung von Produktionsmitteln. Hier müßte man ansetzen, um ein in sich konsistentes Wirtschaftssystem zu schaffen.
Wenn diese administrative Verteilung von Produktionsmitteln beendet würde, wäre das doch sicher für viele Unternehmen das Ende.
Sicherlich. Die sowjetische Wirtschaft ist außerordentlich unproduktiv. Die Betriebe arbeiten mit ungeheuer hohen Kosten, zum Teil auch mit außerordentlich hohen Ausschußraten. Konkurrenz zwischen den Betrieben wäre sicher auch mit struktureller Arbeitslosigkeit verbunden.
Also eine ziemlich brutale Roßkur...
Die derzeitige Wirtschaftsstrategie hat schon jetzt zu einer Desorganisation der Volkswirtschaft geführt. Das ist ja auch eine Roßkur, denn seit fünf Jahren hat sich die Versorgungslage kontinuierlich verschlechtert. Die Inflation ist drastisch angestiegen, und wenn diese Politik weiter verfolgt wird, wird auch diese Desorganisierung der sowjetischen Volkswirtschaft weitergehen. Den Rubel will schon heute niemand mehr haben, der Schwarzmarkt blüht. Die Fortsetzung dieser Politik ist praktisch keine Alternative.
In den letzten Jahren wurden immer wieder Anläufe gemacht'die Konsumgüterproduktionen bevorzugt zu fördern, auch durch eine Umstellung von Rüstungsbetrieben. Warum hat das überhaupt nichts gebracht?
Zum Teil sind diese Maßnahmen nur angekündigt, aber nicht praktiziert worden.
Woran liegt das?
Die Ministerien für Energie, für Eisen und Stahl oder auch die Rüstungsministerien sind außerordentlich mächtige Ministerien'die sich bei den Budgetverhandlungen auch durchsetzen konnten.
Jetzt ist auch die Einführung privater Geschäftsbanken geplant. Wofür soll das eigentlich gut sein?
Zum Teil gibt es die schon. Bis jetzt ist der staatliche Bankensektor weitgehend von Staatsbank und von fünf großen Branchenbanken beherrscht. Die orientieren sich bei der Kreditgewährung überhaupt nicht an Rentabilitätskriterien. Das hat einen ganz entscheidenden Einfluß gehabt auf die inflationäre Situation. Dieser inflationären Kreditgewährung will man nun den Riegel vorschieben, indem man Geschäftsbanken zuläßt, die auch Pleite machen können und die eben stärker darauf achten, daß tatsächlich nur solche Kredite an die Wirtschaft gegeben werden, die auch Aussicht haben, tatsächlich von den Betrieben erwirtschaftet zu werden.
Bei der extremen Mangelsituation in der Sowjetunion muß eine Liberalisierung des Finanzwesens doch zu wilden Spekulationsbewegungen führen, mit denen sich einige wenige bereichern auf Kosten der Bevölkerung - ähnlich wie das in Lateinamerika auch der Fall war.
Das tun sie ja jetzt auch. Man darf sich über den Zustand der sowjetischen Wirtschaft keinen Illusionen hingeben. Die sowjetische Wirtschaft ist heute im Grunde bestimmt durch die sog. Schattenwirtschaft, im Grunde also von Wirtschaftskriminalität. Diese spekulativen Elemente sind also schon da. Und die sozialen Folgen auch. Im Grunde steht man vor der Alternative, entweder ganz zu dem alten administrativen System der Naturalplanung zurückzukehren, oder man versucht eine Marktwirtschaft im westlichen Sinne aufzubauen. Was die Sowjetunion bis jetzt betrieben hat, diesen sog. Dritten Weg, ein bißchen Marktelemente, aber auch einen großen Teil der alten Planelemente beibehalten, das ist erkennbar gescheitert.
In Lateinamerika wird ja schon seit über zehn Jahren mit marktwirtschaftlichen Reformen experimentiert, ohne Erfolg. Gibt es denn irgendwelche Gründe für die Annahme, daß es der Sowjetunion besser ergehen wird?
Die Sowjetion hat in einer Hinsicht natürlich Vorteile: Sie ist von ihren natürlichen Ressourcen her das reichste Land der Erde. Die Sowjetunion hat alle Bodenschätze, die sie benötigt, sie ist potentiell auch weitgehend in der Landwirtschaft autark. Sie hat Bereiche in der Industrie, die durchaus auch weltmarktfähig wären. Auch ist die Abhängigkeit vom Ausland nicht so groß und die Verschuldung noch nicht so gravierend. Von diesen Ausgangsbedingungen her wären in der Sowjetunion sicherlich große Reserven da.
Interview: Gabriela Simon
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