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Archiv-Artikel

Die sanfte Melodie der Barthärchen

Frieden ist nicht nur, wenn es keinen Krieg im Irak gibt. Frieden ist auch eine Hand, die leise über das Papier gleitet. Oder das zarte „Pling“ des Kaffeelöffels auf sauberem Porzellan. Eine Geschichte über sehr schöne und friedfertig machende Geräusche

von JOCHEN SCHMIDT

Es ist Winter, überall brummt es beruhigend. Der geschenkte Kühlschrank, die gefräßige Zentralheizung, der kaputte Verstärker, der total günstige Computer. Alle stimmen ein in dieses winterliche Konzert. Aber ich stelle trotzdem alles aus. Man muss wieder richtig hinhören lernen. Es gibt so schöne Geräusche, die wir schon fast vergessen haben. Dabei kann sie jeder selber machen. Eine Hand, die leise über das Papier gleitet. Das zarte „Pling“ des Kaffeelöffels auf sauberem Porzellan. Das ist Frieden.

Manchmal zittert die Tasse ein wenig, wenn eine U-Bahn vorbeifährt. Dann folgen meine Gedanken den vielen Menschen in der Bahn, ihren Schicksalen und Träumen. Meine Gedanken gehen mit ihnen, ich bleibe hier, ganz friedlich, ohne Gedanken, ommm … ommm … ommm …

Ein paar Regentropfen purzeln auf mein Fensterbrett. So lange unterwegs und dann nur mein Fensterbrett. Aber ich habe sie ja purzeln gehört, es war kein Fehler gewesen, sich ins Ungewisse zu stürzen. Die kleinen Racker haben ihre Mission erfüllt und können jetzt im Kreislauf des Wassers relaxen. In die Erde sickern, ins Grundwasser, in die Panke, in die Spree, in die Elbe, in die Nordsee, hoch in den Himmel verdunsten, bis ein neuer Einsatz auf sie wartet, vielleicht treffen sie ja diesmal ein durstiges Blütenblatt in der Sahara oder einen halb vollen Bierbecher in einer Pfütze. Draußen zittern die Äste im kalten Wind.

Ich streiche mir mit der Hand übers Gesicht, die sanfte Melodie der Barthärchen, dieser widerspenstigen Gesellen. Ich erinnere mich noch an meine ersten Barthaare, sie waren kräftig wie Stacheldraht. Ich massierte sie, damit sie noch kräftiger würden. Jeden Morgen eine halbe Stunde Arbeit, obwohl es nur drei waren. Den ganzen Schultag ließ ich sie durch die Finger gleiten, ein faszinierendes Gefühl, Stacheldraht im Gesicht. Dann hatte ich eines von ihnen ausgerupft, meine Liebe war zu stark gewesen für die dicke knollige Wurzel. Ich betrachtete es lange und konnte mich nicht entschließen, es wegzuwerfen, schließlich war es einmal ein Teil von mir gewesen. Ich legte es meiner Sitznachbarin aufs Pausenbrot, vielleicht wirkte es ja als Aphrodisiakum. Oder musste man dafür ein Schamhaar nehmen? Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Die Kaffeetasse wärmt meinen Handrücken und kitzelt ganz leicht die Härchen, die dort wachsen. Sie schützen mich vor Kälte, Hitze, Sonne und Ungeziefer. Für Ungeziefer sind meine Arme ein dichter Urwald, sie können keinen Schritt gehen ohne auf ein Härchen zu treffen, über das es hinüberzuklettern gilt. Das spricht sich rum in Ungezieferkreisen, so dass die kleinen schwarzen Käfer einen großen Bogen um mich machen.

Es ist so still ohne das Brummen, nur ich und der schöne neue Tag. Ich zähle meine Lipome, gutartige Fetteinschließungen unter der Haut. Kleine freundliche Gnubbel, die aus dem Nichts kommen. Wenn die ganze Welt so gutartig wäre wie sie, es gäbe keine Kriege mehr. Das böse Telefon, der böse Nachbar, der böse Computer, dieser böse arabische Diktator, sie sollen mein Leben nicht länger bestimmen. Ich werde in die Wüste gehen, mir ein Haus aus Sand bauen und so lange in der Sonne sitzen, bis mir eine neue Weltreligion einfällt. Eine so friedlich wie ein Lipom. Alle Menschen werden gleich sein, deshalb wird Sex verboten, damit niemand mehr frustriert sein muss, weil ihn keiner will. Männer und Frauen werden getrennt voneinander leben, auf zwei verschiedenen Kontinenten, so wird es nie mehr Streit geben zwischen ihnen. Keine technischen Geräte mehr, kein Brummen, nur noch die Musik der Stille, der man in großen Aufführungen gemeinsam lauscht, ommm … ommm … ommm … Keine Waffen, keine Messer, niemand darf sich rasieren, die Männer streichen sich, statt vorm Fernseher zu verdummen, abends mit den Fingern durch den Bart, um diesem beruhigenden Geräusch zu lauschen und Aggressionen abzubauen.

Alle wissenschaftlichen Forschungen dienen nur noch dem einen Ziel, die eine Million Spermien, die pro Samenerguss verschwendet werden, zu isolieren und einzufrieren. So kann allein durch eine großzügige Samenspende des Religionsschöpfers das Überleben der Menschheit für die nächsten 1.000 Jahre gesichert werden. Das Samenschiff, das den Namen „Warrior of God“ trägt, wird einmal im Jahr auf dem Frauenkontinent landen und die edelsten unter ihnen, die den Wettkampf mit den wildesten Tieren überlebt haben, bekommen als Siegestrophäe ein Sperma. Auf der Rückfahrt nimmt das Schiff die neu geborenen männlichen Kinder mit. Zu Hause pilgern die Männer auf Knien zu meinem Haus aus Sand, wo sie den Totem unserer Religion anbeten, mein erstes Lipom.

Es ist so friedlich in meiner Wohnung, die Kaffeetasse zittert leise, meine Finger knacken ganz sacht wie Reisig im Feuer. Es war gut, sich einmal zu entspannen,meinen Gedanken nachzuhängen. Die ganze aufgestaute Aggressivität verpufft zu nichts, ommm … ommm … ommm …