piwik no script img

Die perfekte Geste

Pissen im exakt abgezirkelten Bogen: „Ridicule“ von Patrice Leconte zeigt eine Gruppe von Höflingen Ludwig XVI., die ein müder Witz das Leben oder die Gunst des Königs kosten kann. Cherchez la Leistungsgesellschaft!  ■ Von Anja Seeliger

Ein tragischer Todesfall? Ein Staatsstreich? Ein verlorenes Vermögen? Der Mann scheint ernste Nachrichten zu bringen. Die Kammerzofe eilt durch das Palais, und er, in Höflingskleidung, mit ernstem, unbewegtem Gesicht, folgt ihr mit schnellen Schritten. Etwas Unheilvolles liegt in dieser Hast, noch verstärkt durch die Musik, die mehrmals aussetzt, als hielte sie vor Erregung die Luft an. Die Kammerzofe öffnet eine Tür: In einem fast dunklen Zimmer sitzt ein Greis, so alt, als würde er gleich zu Staub zerfallen. Über dem rechten Auge trägt er eine schwarze Augenklappe, sonst ist er ganz in Weiß gekleidet. Als der Höfling seinen Namen nennt, stöhnt der Alte. Er wird ihn ermorden!

Der Höfling plaudert. Man hört kaum hin, weil er dabei seine Kleider aufknöpft – irgendeine Geschichte, wie er vor Jahren beim Tanzen gestürzt und von dem Alten mit einem spitzen Bonmot bedacht wurde. Die Kamera fährt auf seinen Schwanz, den er jetzt in der Hand hält. Die graurosa Haut etwas zurückgeschoben, so daß die Eichel fast frei liegt. „Ich habe mich jahrelang nicht davon erholt“, erklärt er sanft. Dann pißt er. Der Strahl bildet einen schönen Bogen, um dann im Schoß des Alten zu landen. Ein Sonnenstrahl fällt in das Zimmer, Staubkörnchen flimmern, der Alte stöhnt. Der Höfling trägt einen roten Anzug, darüber eine blaue Schärpe, ein weißes Spitzenhalstuch, goldene Litzen an Ärmeln und Verschluß. Er erzählt von seinem Leben im Ausland. Der Strahl ist so gelb, daß man meint, den durchdringenden Uringeruch von der Leinwand zu riechen. Es plätschert auf die weiße Atlashose des Alten. Den zahnlosen Mund aufgerissen, hat dieser seinen Kopf hilflos nach hinten gebogen. Zu einer anderen Bewegung hat er nicht mehr die Kraft. Als der Höfling fertig ist, schüttelt er seinen Schwanz ein wenig, um die letzten Tröpfchen abzustreifen, und knöpft seine Hose zu. Nicht einmal hat er sein Geplauder unterbrochen. An der Tür wendet er sich schamhaft an die Zofe, die draußen gewartet hat: „Ich fürchte, Monsieur hat sich in der Freude vergessen.“ Spricht's und geht.

Welche Eleganz in der Ausführung! Kein Stocken, kein ängstliches Tröpfeln – von Anfang bis Ende pißt der Höfling einen perfekt abgezirkelten Bogen. Sonderbar, wie man spontan geneigt ist, eine bösartige Handlung zu tolerieren, wenn die Wut des Ausführenden so groß ist, daß sie sich zu einer perfekten Geste sublimiert.

Auch diese ersten fünf Minuten von Patrice Lecontes Film „Ridicule“ sind ein perfekter Kunstgriff: Man lacht und weiß, daß man dieses Lachen nicht gern auf sich selbst gemünzt hören würde. Man lacht – und schon sind diese Höflinge Ludwigs XVI. keine Fremden mehr.

„Ridicule“ erzählt die Geschichte eines jungen Landedelmannes, Grégoire Ponceludon de Malavoy (Charles Berling), dessen Land von Sümpfen durchzogen ist. Seine Bauern, hilflos der Natur ausgeliefert, sterben wie die Tiere. Malaria gab es auch mal in Europa. Ponceludon weiß, was zu tun wäre: das Land trockenlegen, Deiche und Kanäle bauen. Doch er ist arm. Also beschließt er, den König um Hilfe zu bitten. Auf einem weißen Pferd reitet der brave Ritter nach Versailles. Die Kamera scheint hinter ihm her zu fliegen, über einen grünen Hügel, dahinter öffnet sich weit der Blick auf ein Tal, auf Berge, auf die Fremde. Der Anlaß der Reise ist vernünftig, aber ein Abenteuer ist es auch.

An der Hand dieser Landpomeranze, immerhin ausgestattet mit einem wachen Verstand, erreicht der Zuschauer den Hof des Königs. Rousseau und Voltaire sind tot. Letzterer wird am Hof immerhin gelegentlich zitiert – weil er so schön spitze Sachen gesagt hat. Es ist die Zeit kurz vor der Revolution, aber das weiß ja noch keiner. Woran merkt man eigentlich, daß man am Ende einer Epoche lebt?

Sein erster Gang führt Ponceludon eben zu dem Alten aus der Eingangsszene. Zwei Höflinge, die gerade von seinem Sterbebett kommen, versichern ihm, daß Monsieur gerade Audienz hält: „Sie erkennen ihn an seiner Witwe.“ So geht es zu hier. Das Drehbuch von Rémi Waterhouse hat übrigens Hans Magnus Enzensberger übersetzt, und zwar gleich zweimal. Die erste Fassung, ein Manuskript von 800 Seiten, handgeschrieben, verbrannte bei einem Unfall. Leider gab es keine Kopie. Also übersetzte Enzensberger das Drehbuch noch einmal. Das Schönste daran ist, daß der Verleiher, obwohl er die Übersetzung noch einmal bezahlen mußte, beim Erzählen seine Freude über diese hübsche Geschichte nicht verbergen konnte.

Der Marquis de Bellegard (Jean Rochefort) übernimmt es, Ponceludon in die Spielregeln des Hofes einzuweihen. Bellegard ist eine etwas merkwürdige Figur. Er liebt den Hof mit seinen sophistischen Vergnügungen. Doch gleichzeitig ist er Arzt und ein Anhänger Rousseaus. Seine Tochter Mathilde hat er zur Vernunft erzogen: Sie will einen alten reichen Mann heiraten, damit sie weiter ihren wissenschaftlichen Forschungen nachgehen kann.

Ponceludon verliebt sich in sie und beginnt ein Verhältnis mit der Gräfin Blayac (Fanny Ardant) – weil sie ihm Zutritt zum König verschaffen kann, weil sie schön ist, und weil sie Esprit hat. In Versailles verschafft nur Esprit Zugang zum König, und das heißt zu Ämtern und Pfründen. Ponceludon hat in dieser Hinsicht ein gewisses Naturtalent, und so beginnt das Spiel bald, ihm Spaß zu machen. Aber es ist ein gefährliches Spiel. Witz ist eine scharfe Waffe. Er muß sich gegen einen anderen richten, sonst taugt er nur zum Kalauer. Der Aufstieg gelingt immer nur auf Kosten eines anderen. Opfer eines Witzes zu werden, ridicule, also lächerlich zu erscheinen, ist die größte Angst der Höflinge, denn die Folge ist Ungnade beim König. Diese Leute rücken einem immer näher: Im Grunde hat der Absolutismus die Leistungsgesellschaft erfunden. Hin- und hergerissen beobachtet man den Hof und Ponceludon bei diesem Spiel. Was macht diese gräßlich ignorante Bande nur so verdammt anziehend? Sie weigern sich, auch nur ein Wort von Ponceludons armen Bauern zu hören. „Wie bedauerlich“, sagt die Gräfin Blayac gelangweilt. Und dann – inzwischen hat der König Ponceludon eine Audienz versprochen – mit einem strahlenden Lächeln: „Trinken wir auf Ihre Kanäle und Deiche.“ Sie ist eine falsche Schlange, aber die Art, wie sie lächelt, macht das ganz unwichtig.

Gegen jede Vernunft halten sie fest an einer Lebensweise, die sie bald aufs Schafott bringen wird. Oder auf einem Feld verbluten läßt. Aus einem nichtigen Anlaß wird Ponceludon zu einem Duell gefordert. Der Herausforderer, der in seiner Uniform wie eine lächerliche Hofschranze aussah, ist auf dem Feld eine höchst eindrucksvolle Figur: Das spitzenbesetzte Hemd und die toupierten Haare können nicht verbergen, daß er ein Gesicht wie ein Eisenfresser hat. Er könnte einen Krieg gewinnen. Er könnte eine neue Religion gründen. Er könnte den König töten. Statt dessen riskiert er sein Leben wegen einer Bagatelle, wegen einer höfischen Regel. Absurd, aber sehr zivilisiert. Leconte hat diese Szene in Zeitlupe gedreht. Man sieht, wie die Pistolen abgefeuert werden, wie sich das Pulver entzündet und die schwere Waffe hin- und herschwankt. Es ist reine Glückssache, ob man trifft. Der Herausforderer stirbt, und auf Bellegardes Gesicht zuckt ein winziges Lächeln.

Vielleicht ist das Anziehende dieser Gesellschaft aber gerade ihre Ignoranz. Sonderbar, wie man geneigt ist, eine absurde Handlung zu tolerieren, wenn die Starrköpfigkeit so groß ist, daß sie sich zu einer perfekten Geste sublimiert. Und schließlich: Mit der Aufklärung kam nicht nur die Vernunft, sondern auch die Romantik. Auch Mathilde erliegt ihr. Sie kündigt ihre Verlobung mit dem reichen Greis und wird Ponceludon heiraten. Und wie wird das enden? Gewiß nicht mit einem eigenen Labor. Sie wird mit einem Haufen Kinder in der Provinz versauern. Das ist wirklich lächerlich.

„Ridicule“. Regie: Patrice Leconte. Drehbuch: Rémi Waterhouse. Mit Charles Berling, Jean Rochefort, Fanny Ardant, Bernard Giraudeau u.a. Frankreich 1995, 102 Min.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen