Die neue Moral beim Reisen: Paradigmenwechsel
Reisen ist in Verruf geraten. Eine neue besinnliche Bescheidenheit wird propagiert – und das Weltenbummeln auf seine Kommerzialisierung reduziert.
Meine Freundin Regina, Rechtsanwältin, Anfang 60, war bis vor Kurzem eine passionierte Weltenbummlerin, die auch bei drei Fernreisen im Jahr nie sparen musste. Nachdem sie ein Leben lang die Welt bereist hat, propagiert sie nun leidenschaftlich das Wandern, den Outdoor-Ausflug vor der Haustür. Jene, die eine Flugreise auch nur ins Auge fassen, straft sie unerbittlich mit dem Wort Flugscham ab. Genauso vehement wie sie bislang ihr Vielreisen als absolutes „must“ in Bezug auf Weltoffenheit und Toleranzerfahrung verteidigte, findet sie nun, dass das Reisen überschätzt wird. Das meint auch meine Kollegin in der taz.
Und die Zeit behauptet: „Das Reisen ist das neue Rauchen.“ Jedenfalls fällt es immer mehr aus dem Verhaltenskanon aufgeklärter Bürgerlichkeit. Hinzu kommt: Selbstgenügsamkeit ist das Gebot in Zeiten des angeordneten Corona-Stillstands. Wie schön es sei, nicht mehr in die stressigen Flieger zu steigen, sondern stattdessen ein gutes Buch zu lesen, erklärt mir Regina. Auch das könne in andere Kulturen, andere Welten entführen, tiefgründiger gar. Man solle sich einfach den Daheimbleibenden zuwenden. Kochen und Gärtnern lernen, sich auf die kleinen Dinge besinnen!
Das ist schön! Und man sollte unbedingt etwas davon für sein ganzes langes Leben entwickeln – mich machen diese Ratschläge jedoch zunehmend aggressiv. Besänftigungsstrategien, die Einschränkungen unter Corona schönreden und Erfahrungen wie das Reisen in ferne Länder nachträglich entwerten.
Klar wird das Reisen im industriellen Tourismus, der immer neue, überflüssige Angebote kreiert, überschätzt. Ein Lifestyle wie heute veganes Essen.
Der ausufernde Warencharakter des Tourismus ist im überschwappenden Overtourism unübersehbar. Und Flugscham sollte angesichts der Klimakrise jeden erröten lassen, der dreimal im Jahr nur so zur Abwechslung eine Fernreise bucht. Klimaverantwortung ist der notwendige Paradigmenwechsel. Das sehe ich ähnlich wie Regina.
Dennoch verteidige ich den Wert des Reisens: das warme Meer in der Karibik, die überbordende Natur des Dschungels, neue Gerüche, neue Geschmackserfahrungen. Aber nicht nur diese sinnliche Erweckung, auch die Untiefen anderer Gesellschaften, andere Regeln, andere Normen, politische Bedingungen. Die oft entspannteren sozialen Beziehungen, mehr Humor – das Reisen hat nicht nur ganz banal meinen Horizont erweitert, sondern mich auch Demut gelehrt: Mein – möglicherweise privilegiertes – Leben ist auch nur ein Entwurf.
Nervend ist vor allem der moralische Unterton dieses Paradigmenwechsels zur anmaßenden Bescheidenheit, die viele plötzlich geläuterte Zeitgenossen an den Tag legen. Die Welt soll wieder schrumpfen auf ein überschaubares Maß. Nationale Grenzen werden aufgewertet aus Angst vor infektiösen Begegnungen. Selbst regional wird ausgegrenzt: Menschen mit Zweitwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern sollten wegbleiben. Die Welt hat man entweder schon gesehen, oder sie ist keinen Aufbruch wert. Und ohnehin: Andere Länder, andere Kulturen seien völlig überschätzt, was in Zeiten der Globalisierung und der Erosion, die sie in der Gesellschaft auslöst, nicht ganz von der Hand zu weisen ist.
Die Anstrengungen von weltweiten Projekten, die versuchen, den Tourismus nachhaltiger und menschlicher zu machen und sich eine Existenzgrundlage aufzubauen, hat ohnehin nie jemand groß interessiert. Auch nicht die fatalen Folgen des Zusammenbruchs der Tourismusindustrie etwa in Tunesien, wo sich inzwischen Tag für Tag Hunderte Flüchtlinge übers Meer nach Europa aufmachen. Man darf wieder unter sich sein, ohne ausgrenzend zu wirken. Gemütlich in seiner kleinen sicheren Welt. Früher nannte man das spießig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“