: „Die meisten wollen weiterleben“
■ Eppendorfer Zentrum für Suizid-Gefährdete zieht nach drei Jahren Bilanz
Im Jahr 1992 haben sich in Hamburg 219 Männer und 106 Frauen das Leben genommen. Die Dunkelziffer liegt bei 450, die Zahl der Menschen, die es versucht haben, ist zehnmal so hoch.
Professor Paul Götze, Leiter des ersten Therapiezentrums für Suizidgefährdete (TZS) in Deutschland spricht nicht gern von Zahlen, trotzdem hat er sie parat: Männer bringen sich häufiger um als Frauen und Alte öfter als Junge. Bei Jugendlichen liegt die Wahrscheinlichkeit, daß ein Selbstmord gelingt, bei 1:30, bei Männern über 85 bei 1:1.
Als das Zentrum vor drei Jahren eröffnete, hatte Hamburg die meisten Selbsttötungen aller deutschen Großstädte, immer noch gibt es in dieser Stadt mehr Suizide als Verkehrstote. Hat daran die Arbeit des Therapiezentrums etwas geändert? Jeder Mensch, der sich suizidgefährdet sieht, kann den eigens errichteten Pavillon im Westgarten der Uniklinik Eppendorf aufsuchen. Auch wenn das Zentrum nur sieben Mitarbeiter und eine Kapazität von 250 Plätzen hat, ohne Hilfe weggeschickt wird keiner. „Ich habe das Gefühl, daß wir erfolgreich präventiv tätig waren“, sagt Paul Götze.
Aber mit konkreten Ergebnissen könne er nicht aufwarten, wenn heute früh das Symposium beginnt, das sich drei Tage lang dem Zentrum widmet. Die Nachuntersuchungen, was aus den Menschen wurde, sind noch nicht abgeschlossen. Neben der Forschung ist der Kerngedanke des Zentrums, den Menschen eine Alternative zu bieten, die nicht in die Psychiatrie wollen. Das geht beim TZS von langen Telefongesprächen über fünfstündige Kriseninterventionen bis zu mehrmonatigen Kurztherapien. „Die meisten wollen weiterleben, nur unter anderen Bedingungen“, sagt Götze.
Auch jeder mißglückte Versuch sei ernstzunehmen: Eine Kommunikationshandlung von Menschen, die sich anders nicht mehr ausdrücken können. Bei 25 Prozent liege eine psychiatrische Grunderkrankung vor. Die Hälfte aber sei nicht eigentlich psychisch krank, sondern in einer schweren Belastungssituation.
Absolut gesehen ist die Zahl der Selbstmorde in den vergangenen 20 Jahren gesunken. Dafür ist die Zahl der „ungeklärten Todesfälle“ gestiegen. Die Gesellschaft, so Götze, könne heute noch schlechter mit dem Tod umgehen als früher. Und die Intensivmedizin sei besser geworden. Menschen mit schwersten Vergiftungen, die früher gestorben wären, werden heute gerettet.
Wäre schön, wenn auch die Seele vom Fortschritt profitiert. Die Arbeit des TZS wird noch bis Ende 1995 von einer anonymen Spende finanziert. Wenn die Kassen die Kosten nicht übernehmen, muß es danach schließen.
Kaija Kutter
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