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Die luftigste Sache der Welt?

Harald Hartungs Nachtrag zum „Museum der modernen Poesie“  ■ Von Michael Braun

Nichts ist verführerischer für den Kritiker, als einer Textsammlung, die mit enzyklopädischen Ambitionen daherkommt, triumphierend ihre Lückenhaftigkeit nachzuweisen. Auch im Fall von Harald Hartungs Anthologie Luftfracht, die immerhin ein halbes Jahrhundert internationale Lyrikgeschichte in den Blick nimmt, hat man versucht, den Herausgeber bei schwerwiegenden Versäumnissen zu ertappen. Hartungs Luftfracht hat das Pech, an Hans Magnus Enzensbergers 1960 erschienenem Museum der modernen Poesie gemessen zu werden, das auf dem Höhepunkt der Adenauerzeit die in Deutschland seit 1933 verschütteten Traditionen und Texte der poetischen Moderne wieder freilegte. Hartung mag sich in seinem Vorwort noch so oft respektvoll verbeugen vor Enzensbergers „unwiederholbarer Leistung“, den Schatten des großen Meisters vermag er dennoch nicht abschütteln. Daß er Enzensberges Pioniertat nicht wiederholen kann, ist ihm gleichwohl nicht vorzuwerfen. Denn auch auf dem Terrain der modernen Lyrik, wie auf dem der Literatur insgesamt, herrscht keine Gründerzeit mehr; die Explosion irgendeines unerhörten -ismus oder eine hyper- experimentellen Avantgarde ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Mit Enzensbergers Museum war die Kanonisierung der lyrischen Avantgardebewegungen abgeschlossen; was danach kam, waren beileibe nicht nur posthistorische Reprisen, sondern auch geniale Aktualisierungen, Anverwandlungen, Kontrafakturen, aber eben immer: poetische Arrieregarde, lyrische Diadochenkämpfe. Für eine Darstellung der internationalen Poesie von 1945 bis zur Gegenwart, erkannte Enzensberger bereits 1979, wäre „das Museum keine angemessene Form der Darstellung mehr; da wäre eher an einen Atlas zu denken“.

Hartung hat diesen „Atlas“, auf dem die in zahllose Dialekte zerfallene „Weltsprache der modernen Poesie“ global zu dokumentieren wäre, nicht vorlegen wollen. Sein Anthologisteninteresse konzentriert sich vielmehr auf den Nachweis, daß Poesie immer wieder aus Poesie entsteht, durch permanente Auseinandersetzung mit den Werken der Kollegen, durch zitierende oder parodierende Anverwandlung der Urtexte, durch artistische Überbietung vorgefundener Versrede ebenso wie durch polemische Abweichung von ihr. So bastelt Hartung an einem poetischen Mosaik aus Anspielungen, Widmungen, offenen und versteckten Zitaten, expliziten oder impliziten Bezugnahmen. Jedes Gedicht in Luftfracht ist Transformation eines anderen Gedichts, ein kompliziertes literarisches Verweisungssystem. Diese Entscheidung für das Vorzeigen poetischer „Intertextualität“ ist gewiß anfechtbar; sie ist jedoch kaum durch Mängelberichte nach dem Motto „Was fehlt?“ zu kontern. Rund 250 Gedichte von insgesamt 129 Lyrikerinnen und Lyrikern aus 30 Ländern hat Hartung ausgewählt, ohne auch nur den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität zu erheben. Dennoch hagelte es prompt literaturkritische Vermißtenanzeigen. Auf der Suche nach vergessenen oder unterschlagenen Autoren sind Peter Hamm (in der 'Zeit‘) und Ursula Krechel (in der 'Süddeutschen Zeitung‘) sehr schnell fündig geworden: Es fehlen in Luftfracht, um nur die prominentesten Namen zu nennen, Anna Achmatova und Pablo Neruda, Czeslaw Milosz, Jaroslav Seifert und Jan Skačel und aus Deutschland Peter Huchel, Ernst Meister und Nicolas Born. Fast vollständig hat Hartung auf arabische und afrikanische Lyrik verzichtet, die lateinamerikanische Poesie streift er nur. Zu kurz kommen auch die Literaturen an der europäischen Peripherie: Kein Lyriker aus Norwegen, Island und der Niederlande erfüllt die Beförderungsbedingungen der Luftfracht. Aber auch bestimmte Gedichttypen bleiben ausgesperrt: das originäre Naturgedicht fehlt ganz, weitgehend auch die sprachartistisch-experimentelle Poesie und die hermetische Dichtung. Diese Defizite vor Augen, haben sich Peter Hamm und Ursula Krechel auf eine grimmige These geeinigt: Harald Hartungs Luftfracht sei, wie schon Enzensbergers Museum vor ihm, von einem ahnungslosen Eurozentrismus geprägt, der unverdrossen die angloamerikanischen Standards zum Maß aller poetischen Dinge erklärt. Diese These ist jedoch billig zu haben, weil sie Hartungs Konzept hartnäckig ignoriert: keine Gesamtdarstellung lyrischer Idiome und Völkerschaften war geplant, sondern die Darstellung eines subtilen Netzwerks, an dem sich die Wirkungsgeschichte eines Textes oder eines poetischen Motivs verfolgen läßt.

Was den Eurozentrismus betrifft, hat Hartung doch einiges getan, um sich von dieser traditionellen Arroganz freizuschwimmen. Er präsentiert zahlreiche Beispiele japanischer und chinesischer Lyrik, entdeckt mit Hilfe seines poetischen Säulenheiligen Joseph Brodsky einen Dichter aus der Karibik (Derek Walcott) und komplettiert mit einem neuseeländischen Maori (Hone Tuwhare) sein Gruppenbild der internationalen Poesie zwischen 1940 und 1990. Unübersehbar ist: Hartung favorisiert das Erzähl- und Gedankengedicht vorwiegend angloamerikanischer Provenienz und verhehlt kaum sein Mißtrauen gegenüber den sprachmagisch-hermetischen Dichtungstraditonen. In seiner Begeisterung für die poetischen Konspirationen und Kollaborationen seiner angloamerikanischen Kronzeugen verlegt er sich allzu stark auf die Präsentation von Porträt- und Widmungsgedichten. Wenn sich also Charles Olson und Robert Creeley, Allen Ginsberg und Lawrence Ferlinghetti oder William Carlos Williams und Kenneth Koch gegenseitig mit poetischen Ergebenheitsadressen eindecken, verliert das rasch seinen dialogischen Reiz. Spannender und ergiebiger wird es schon, wenn Hartung verschiedene Übersetzungen zweier Ungaretti- Gedichte miteinander konfrontiert oder Celans berühmte Todesfuge motivverwandte Gefichte von Immanuel Weissglas und Nelly Sachs gegenüberstellt. Überraschend feiert auch das Zeitgedicht, eine elaborierte Variante des politischen Gedichts, inLuftfracht seine Widerauferstehung. „Die großen historischen Brüche erreichen auch den Vers“: Diesem Satz Enzensbergers und dem Kapitel Zeitläufe aus dem Museum folgend, hat Hartung zahlreiche Gedichte aufgenommen, in die sich die Erfahrung von Faschismus, Krieg und totalitärer Repression eingeschrieben hat. Auf Gedichte von Wystan Hugh Auden und Robinson Jeffers, die die Katastrophe des Krieges vorausahnen, antworten Texte von Eugenio Montale und Jewgenij Jewtuschenko, infernalische Visionen aus den Zentren des Schreckens, den Schauplätzen faschistischen Massenmords.

Den größten Platz in seiner Anthologie hat Hartung den Dichtern der leisen Melancholie und des ironischen Räsonnements eingeräumt. Zu ihren Protagonisten zählen zwei Lyriker aus dem angloamerikanischen Sprachraum: der Brite Philip Larkin und der Amerikaner John Ashbery. Der nüchterne ironische Realismus eines Larkin und die monologischen Grübeleien eines Ashbery intonieren den reflexiven Grundton in Luftfracht, wie er auch in Gedichten von Michael Hamburger, Thomas Tranströmer, Lars Gustafsson, Philippe Jaccottet oder Seamus Heaney wiederkehrt. Die Gedichte dieser Autoren vereinigen sich zu einem murmelnden, monologisch in sich verschlungenen Selbstgespräch, das nichts so sehr zu fürchten scheint wie den metaphorischen Aufschwung oder die pathetische Evokation. Die fast völlige Abwesenheit von Emphase und Pathos mag man beklagen — schwerer wiegt etwas anderes. Einer alten Kritiker-Manie, dem Rubrizierungswahn folgend, ist Hartung darauf verfallen, die Gedichte in Magazinen zu sortieren, die nach Jahrzehnten gegliedert sind. Dichtung aber fügt sich nicht der Logik von Dezennien, „Kreativität und Dezimalsystem stimmen selten überein“ (Gerd Henniger). Dementsprechend krankhaft verläuft im Vorwort der Vesuch, die Gedichte unter den Hut eines Jahrzehnts zu bringen. Was am meisten befremdet, ist der völlige Rückzug des Anthologisten aus jeder lyriktheoretischen Diskussion. Was ist das Gedicht, was kann es? Vor einer Antwort weicht Hartung aus ins Unverbindliche, erhebt sich mit seiner Titelmetapher in die Lüfte: „Poesie scheint die luftigste Sache der Welt...“ Man kann das Understatement und die Selbstbescheidung auch übertreiben. Ein Enzensberger leistete sich noch die pathetische Rede von der Subversitvität der Poesie: „Ihr bloßes Vorhandensein stellt das Vorhandene in Frage.“ Seinen poetischen Kronzeugen Joseph Brodsky zitiert Hartung mit dem Satz: „Lyrik — die Essenz der Kultur der Welt.“ Sind solche kühnen Thesen anachronistisch geworden? Harald Hartung verrät es uns nicht. Er bewegt sich lieber im Binnenraum der Poesie, sorgsam die interkontinentalen Bezüge und die untergründigen Korrespondenzen dechiffrierend. Vielleicht ist das aber nur ein weiteres Indiz dafür, daß sich die Poesie endgültig von der Öffentlichkeit verabschiedet und sich in ihrem privaten Mikrokosmos der Texte, Subtexte und Kontexte eingerichtet hat.

Harald Hartung (Hrsg.): Luftfracht · Internationale Poesie 1940—1990. Eichborn Verlag (Die Andere Bibliothek), Frankfurt am Main 1991, 456 Seiten, 44DM

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