: Die letzte Stunde eines Amokläufers
Provoziert das Schulsystem durch die Aussonderung einzelnen Schüler mehr Gewalt? Das „Moment Theater“ in Neuss zeigt „Ich bin weg“
VON LUTZ DEBUS
Eine schwarz gestrichene Wand im Jugendzimmer. Das Kinoplakat vom Disney-Zeichentrickfilm Dschungelbuch Zwei. Daneben hängt der maßstabsgetreue Grundriss einer Schule. Rechts noch ein Poster von Kurt Cobain, der sich wohl mit einem Gewehrschuss in den Kopf selbst tötete. eigentlich nicht gerade außergewöhnlich, doch das Bühnenbild erzählt vom Ablauf der Tragödie. Denn in der Mitte des dunklen Raumes steht der Arbeitsplatz eines Amokläufers – ein angegilbter PC. Dahinter lauert er in Kakihose, schwarzem Pulli und schwarzer Wollmütze selbst. Sein Name: Tim Schmidt. Der 17-jährige offenbart in einem 60-Minuten-Monolog auf der Bühne seine Gedankenwelt. Unterbrochen wird er nur von kurzen Ton-Einblendungen. Die verzweifelte Mutter, der, den Jungen verachtende Lehrer und die ihn hassende Ex-Freundin. Alle versuchen sich an einer Interpretation. Wie das Stück „Ich bin weg“enden wird, bleibt unklar. Autorin Lena Katz will vor der Premiere nichts verraten.
Ihr Text ist eine Reaktion auf den Amoklauf in der Geschwister-Scholl- Schule in Emsdetten. Der Titel gibt die letzten Worte im Abschiedsbrief des Schülers Bastian B. wieder, der im November vergangenen Jahres mehrere Schüler, Lehrer und Polizisten zum Teil schwer verletzte, bevor er sich selbst in die Luft sprengte. Das Jugend-Theaterstück versucht, die letzten Stunden vor solch einer Tat aus Sicht des Täters zu erzählen.
In nur sechs Wochen war das Drehbuch fertig. „Ich habe wie im Rausch geschrieben“, sagt die Autorin, die dafür ein Pseudonym benutzt. Um ihre regionalen Quellen zu schützen, hat sich die Rheinländerin für den falschen Namen entschieden. Als Mutter zweier inzwischen erwachsener Kinder und als Nachhilfelehrerin, ist sie mit den Verhältnissen an deutschen Schulen vertraut. Der Amoklauf von Emsdetten habe sie tief erschüttert. “Die Genese einer solchen Tat besteht aus hundert kleinen Katastrophen. Diese ständigen Demütigungen einzelner Schüler können sich addieren.“
Viele Anekdoten, die sie von Kindern erzählt bekam, hat Katz in ihr Stück hinein geschrieben. „Mit deinem Gesicht würde ich mich bei der Müllabfuhr bewerben.“ So sprechen auch Pädagogen zu ihren Schülern. Davon ist die Autorin überzeugt. Nicht die Killerspiele am PC, nicht Horrorvideos oder brutale Songtexte seien die Ursache eines Amoklaufs, sondern das Schulsystem, das durch Aussonderung ständig mehr Gewalt zwischen Lehrern und Schülern provoziere. Sie untermauert ihre Auffassung mit Zahlen. „In Deutschland besuchen fünf Prozent der Kinder eine Sonderschule, in Schweden sind es gerade 0,5 Prozent.“ Nicht versetzt werden – auch hier ist Deutschland Spitzenreiter, sei nicht nur eine enorme Zeitverschwendung. Wie Bastian B. aus Emsdetten zerbricht auch dieser Tim Schmidt hinter seinem PC im Theater am „Kleben bleiben“.
Lena Katz hat nicht nur im Rausch geschrieben sondern auch im Netz recherchiert. Der Abschiedsbrief von Bastian B. war einige Tage im Internet zu lesen. Aber auch eine 350-Seiten-Untersuchung zum Amoklauf in Erfurt las die Autorin dort. Ihr Fazit: Segregation ist die Ursache von individueller Gewalt. Aber kann man einen Täter verstehen, der wild und wahllos in die Menge schießt? Oder gehört nicht auch ein wenig Idealisierung dazu, wenn man sich in einen Amokläufer einfühlen will? Es klingt gar nicht so sozialpädagogisch-romantisierend, eher etwas mütterlich, wenn Lena Katz ruhig sagt: „Wut auf meinen Tim habe ich nicht.“
Genau so schnell, wie Lena Katz das Stück geschrieben hat, musste „Das einzig wahre Moment Theater“ es in Neuss auf die Bühne stellen. Seit 18 Jahren kennen sich der Schauspieler Patrick Schadt und sein Regisseur Marek Wander Wróbel, der zuvor in Danzig die Schauspielschule besuchte. Die beiden haben also Routine bei der Zusammenarbeit. Schwerer war es dann, den 46-jährigen Mimen in einen 17-jährigen Außenseiter zu verwandeln. Mit jugendgerechter Gestik und Sprache, mit Sonnenbrille und gruftigen Sounds im Ohr, so die Einschätzung von Marek Wander Wróbel, könne eine jugendgerechte Darstellung glaubwürdig inszeniert werden.
Denn nicht nur Jugendliche und ihre Pädagogen sollen von dem Stück angesprochen werden. „Ich bin weg“ soll Schüler wie Lehrer erst einmal wach rütteln. Dafür ist das „Momenttheater“ sogar bereit, das Stück in Schulen aufzuführen, um dort eine Diskussion über humanere Formen des Umgangs in Gang zu setzen. Marek Wander Wróbel lächelt: „Dafür würden wir sogar durch ganz NRW tingeln.“
24. 02., 20:00 Uhr (Premiere)Moment Theater, NeussInfos: 02131-409494