: Die lästige Unterschicht
Eigentlich hat SPD-Chef Kurt Beck den Ausdruck „Unterschichten-Problem“ nur zitiert – aber das politische Bäh-Wort wirkt
AUS BERLIN KATHARINA KOUFEN
Wenn ein SPD-Parteichef von einem „Unterschichten-Problem“ spricht, geht es tags darauf im Berliner Politikbetrieb hoch her. Darf man das Bäh-Wort überhaupt in den Mund nehmen, war doch bis vor kurzem schlimmstenfalls von Unterprivilegierten die Rede? Gibt es ein solches „Problem“ tatsächlich? Und wenn ja, wer ist dran Schuld? Da spielt es schnell keine Rolle mehr, dass Kurt Beck wörtlich eigentlich nur gesagt hat, „manche nennen es Unterschichten-Problem“ – und Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) schob gestern hinterher: „Vergessen Sie dieses Wort!“
Da fällt auch hinten runter, was der Auslöser für die jüngste Aufregung über die „neue Unterschicht“ ist: Eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, die im Auftrag nach dem Zufallsprinzip 3021 Menschen vor allem zu dem – subjektiven – Empfinden ihrer Lebenslage befragt hat. Ihr Ergebnis: 8 Prozent der Deutschen gehören einem „abgehängten Prekariat“ an. Es ist also keineswegs so, dass nun alarmierende Zahlen über neue Armut bekanntgeworden wären. Was die politische Stiftung ermittelt hat, ist vielmehr ein Stimmungsbild – auch mit dem Ziel, „politische Typen“ und deren Potenzial als SPD-Wähler ausfindig zu machen.
Warum also die Aufregung? Die SPD stand in der Bundesrepublik immer für soziale Nivellierung. Unter den Sozialdemokraten wurde das Bafög eingeführt und damit den Kindern von Nichtakademikern die Leiter nach oben ausgefahren. Die SPD war die Partei des unteren Rands der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Der bestand damals aus Arbeitern in der Textilbranche, in der Autoindustrie, im Bergbau. In ihrer Eigenwahrnehmung war die SPD das auch dann noch, als die meisten Schächte dichtgemacht hatten, als deutsche Autos in Brasilien montiert wurden und die Textilbranche fast weggeschrumpft war. Dass am unteren Rand der Gesellschaft nicht mehr Malocher am Fließband, sondern Langzeitarbeitslose standen, haben die Sozialdemokraten lange Zeit verschlafen. Millionen von Menschen ohne Job wurden als zu alimentierendes Randproblem behandelt – irgendwie lästig, aber nur eine Minderheit. Offiziell hielt die SPD am Ziel der Vollbeschäftigung fest, natürlich zu Tariflöhnen. Kanzler Gerhard Schröder glaubte einst, dass eine bessere Konjunktur plus Fördern und Fordern die Menschen in neue Jobs hineinzaubert.
Womöglich hat die SPD mit Hartz IV damit selbst zum Ergebnis dieser Studie beigetragen. Die Frage etwa, ob die eigene Lebenssituation als „prekär“ empfunden wird, beantworten heute vielleicht auch manche derjenigen mit Ja, die früher Arbeitslosenhilfe erhielten und wussten, das es unterhalb von ihnen noch das Sozialhilfeniveau gab.
So wurde die Unterschichtsdebatte auch sofort für den aktuellen Streit um Hartz IV instrumentalisiert. „Wer das Elend von Millionen Menschen bekämpfen will, muss für die Abschaffung der Hartz-Gesetze stimmen“, sagte der Linksfraktions-Vorsitzende Oskar Lafontaine. Auch die frühere stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer sagte, Hartz IV, die „künstliche Ausweitung der 400-Euro-Jobs“ und auch die Ich-AGs hätten dazu beigetragen, „die Armut auszuweiten“.
SPD-Generalsekretär Hubertus Heil verteidigte Hartz IV – anders als andere Genossen: Vizefraktionschef Stefan Hilsberg nannte Hartz IV eine „Lebenslüge“. Sie gaukle den Menschen vor, dass mit Fordern und Fördern „jeder den ersten Arbeitsmarkt erreichen kann“. Heil plädierte dennoch für einen Kurswechsel in der Sozialpolitik: Ein starker Staat müsse her, der Bildungsmangel und Armut entgegenwirke. Auch das neue SPD-Grundsatzprogramm propagiert diesen Wechsel vom „nachsorgenden“ zum „vorsorgenden Sozialstaat“.
Bundeskanzlerin Angela Merkel empfiehlt eine solide Ausbildung als Vorsorge gegen den sozialen Abstieg. Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder gestand ein, dass „das Phänomen“ als Folge der Massenarbeitslosigkeit seit etwa zehn Jahren existiere, das die Politik jedoch unzureichend wahrgenommen habe. Dies ist nicht nur ein Problem der CDU, sondern auch der SPD: Das „abgehängte Prekariat“ geht nicht zur Wahl oder wählt – gerade im Osten – links oder rechtsaußen. Zur klassischen SPD-Klientel gehört die Unterschicht schon lange nicht mehr.