■ Die kapitalistische Weltordnung: Ein Segen für Menschen und Umwelt? Schön wär’s! : Aus Geld mehr Geld machen
betr.: „Zwei Länder retten die Welt“ (China und Indien) von Dietmar Bartz, taz vom 31. 7. 03
Es ist ein verlogenes Gerücht, dass der Kapitalismus die Bekämpfung der Armut zum Ziel hat. Wie auch? Schließlich schafft er immerzu neue Armut, und das nicht zu knapp. Freilich, zu seiner ideologischen Rechtfertigung bemühen sich seine unverdrossenen Protagonisten redlich, zu belegen, er würde das Gegenteil von dem bezwecken, was er immerzu notwendig schafft, wenn es um seinen einzigen Zweck geht, die Schaffung abstrakten Reichtums, anders ausgedrückt: aus Geld mehr Geld zu machen.
Die schöne Lüge, es ginge dem weltweiten Kapitalismus um nichts so sehr wie Armutsbekämpfung, ist freilich gar nicht so einfach glaubhaft zu machen. Willkürlich zynisch fallen somit die Definitionen von Armut aus: Wenn sich jemand zu einem Billiglohn – von dem er mehr schlecht als recht ein Weilchen leben kann – verdingen kann, gilt er schon nicht mehr als arm. Verdient einer mehr als einen Dollar im Monat (oder im Jahr), schon hat er eine andere Armutshürde genommen. Zumindest ist jenseits der Ein-Dollar-Grenze schon „Fortschritt und Entwicklung“ zu verzeichnen (fragt sich bloß, für wen!)! Und wenn die Kindersterblichkeit abnimmt, verbietet sich sofort jede weitere Frage nach der Gesundheit von Kindern und Müttern und danach, ob sie etwas zum Beißen haben. Dass die Leute vielerorts nur noch Trinkwasser gegen Geld kriegen, das sie nicht haben, ist schließlich die Krone der Armutsbekämpfung: Man braucht es ja nur so zu interpretieren, dass der Anteil von Familien ohne Zugang zu frischem Trinkwasser seit 1960 von 90 auf unter 25 Prozent gesunken ist. 1960 hatte zwar noch weitgehend jeder Trinkwasser, aber das zählt ja nicht als „frisches Trinkwasser“, diesen Titel verdient nur das seriös verkaufte! Dass mittlerweile kaum noch kostenloses Wasser aus freier Natur genommen werden kann, verdankt man zum Teil der grenzenlosen Privatisierung, zum Teil der rigorosen Umweltzerstörung, beides zum Zwecke der Mehrung abstrakten Reichtums.
Woran mag es wohl liegen, dass die Armut in den letzten 50 Jahren angeblich weiter zurückgegangen sein soll als in den 500 Jahren zuvor? Weil es sie zuvor in diesem Ausmaß und in dieser Form einfach nicht gegeben hat! Und weil man sich für den „Rückgang“ die Wahrheit zurechtlügen kann, muss und soll! […]
Mit der Kapitalisierung in China sind Millionen in die Armut getrieben worden (steht oft genug in der taz), die Zeiten des „eisernen Reistopfs“ sind vorbei. Und da erdreistet sich Bartz davon zu sprechen, dass die Menschen „die Angst vorm schieren Verhungern“ nicht mehr haben müssen! Wäre der Kapitalismus in China weiter erfolgreich, könnten, so Bartz, noch bis zu einer halben Milliarde Menschen aus der Armut geholt werden. Nicht nur, dass er sich die Frage, wie sie da überhaupt hineingeraten sind, nicht stellt; nein, er entwickelt gerade aus seiner Ignoranz den Gründen für Armut gegenüber eine haltlose Spekulation. Schöner und zugleich bescheuerter kann man eigentlich für die kapitalistische Weltordnung nicht Partei ergreifen.
WOLFGANG RICHTER, Augsburg