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Archiv-Artikel

Bollywood in Hamburg: „Awaara“ im Metropolis Die große Schicksalsmaschine

Wenn die Handlung so schmalzig daherkommt, dass sie nur schwer zu ertragen ist, wenn die Schauspieler völlig übertriebene Kostüme tragen und sich in endlosen Gesangsnummern anschmachten – am besten noch vor einer Kulisse, die aus allen Poren Studioatmosphäre atmet – ist man vermutlich in einem Bollywoodfilm. Die Verführung ist groß, dieses Kino aus Bombay ironisch zu betrachten. Es ist ein bisschen wie mit dem deutschen Schlager, über den auch so lange gelacht wurde, bis es nicht mehr lustig war.

Awaara ist in allen Punkten eine typische Bollywoodproduktion. Und doch ist der Film, den Regisseur Raj Kapoor 1951 im eigenen Studio drehte, viel mehr als das. Allein schon, wie die Gesichter gezeigt werden: in extremen Schwarz-Weiß-Kontrasten, aus dem Dunkel ins Licht und umgekehrt – so extrem gibt es das eigentlich nur noch in den großen Stummfilmen von Fritz Lang, wo auch der Kampf der Mächte des Lichts und der Finsternis ausgetragen wurde. Langs „müder Tod“ hat in Awaara sein Pendant in einem Satan in Menschengestalt, der den Protagonisten (der wie der Regisseur Raj heißt) zum Bösen verführt.

Anders als bei Lang wird dem Helden in Awaara jedoch Erlösung zuteil. Sie kommt, wie sollte es anders sein, in Gestalt eines jungen Mädchens, die dem gefallenen Helden ihre Liebe schenkt, obwohl sie weiß, was er getan hat. „Was soll ich nur tun, ich habe mich in einen Verbrecher verliebt“, singt sie gedankenverloren am Klavier, während der Soundtrack schon längst bei einem indischen Orchester angekommen ist.

Das Grinsen über die künstlichen Studiolandschaften, in denen die Verliebten planschen, über die doppelt und dreifach überdeterminierte Symbolik (Wolken ziehen sich zusammen, Donner grollt, das volle Programm eben) ist das eine. Das andere ist die Geschichte, die der Film eigentlich erzählt. Es ist die Geschichte einer unmöglichen Liebe, die im Laufe der drei Stunden, die Awaara dauert, immer unmöglicher wird.

Denn die Geschichte hat immer eine Vorgeschichte, und dass er die erzählt, in allen ihren Schicksalsverkettungen, macht den Film groß. Am Anfang aller Leiden, so erzählt Awaara, liegt das Unrecht. Es ist eine Verstoßung, abgeschaut aus der Mythologie, in der Gott Shiwa aus Eifersucht seine Frau verstieß und das Kind, das sie im Bauch hatte, mit dazu. Gott Shiwa ist in Awaara ein sehr reicher und sehr mächtiger Richter im Indien der 50er, und genau wie Shiwa beging auch er seine Tat nicht aus bösem Willen, sondern aus einem Versehen heraus.

Weil das so ist, laden die Personen des Dramas Schuld auf sich, nur ist es eine Schuld, für die keine Moral zuständig ist. Das große Sozialpanorama Indiens, dass Awaara ausbreitet, wird gezeigt, ohne dass sich eine Lösung abezeichnen würde. Gerade darum kann es sich dieser Film leisten, sehr genau hinzuschauen. Nicht mitleidslos, nicht ohne utopische Untertöne. Aber doch ohne ein besseres Wissen.

Bollywoodkino mag manchmal lächerlich sein. Manchmal ist es auch sehr weise. Daniel Wiese

Fr, 17 + Sa, 19.15 Uhr, Metropolis