piwik no script img

Die echte Farbe

■ Eine Dokumentation zur Geschichte von Agfa thematisiert auch den Umgang mit Wahrnehmung

Aus den Toren einer Fabrik strömen Arbeiterinnen und Arbeiter dem Feierabend entgegen. Ihre Bewegungen sind etwas ruckartig. Dies ist der erste Film, der je gezeigt wurde: Arbeiter verlassen die Fabrik der Gebrüder Lumière in Lyon. Hundert Jahre später feierte Europa das runde Jubiläum des Films, und bei der renommiertesten, international bedeutsamsten deutschen Filmherstellung verließen die Arbeiter ebenfalls die Fabrik – zum letzten Mal. Die ORWO, ORiginal WOlfen, schloß ihre Tore.

1910 war die Agfa von Berlin hierher gezogen, aufs platte Land zwischen Dessau und Bitterfeld. Was in der Hauptstadt durch die Herstellung von Glasplatten-Negativen die Fotografie in Deutschland losgetreten hatte, entwickelt sich hier bald zum perfektionierten Großunternehmen in Sachen Film. 1936 entstand hier der erste deutsche Farbfilm, den man auch verwenden konnte. „Gelingt denn bei Kunst nicht jede Aufnahme?“ fragte ein Werbefilm aus dieser Zeit rhetorisch und gab sich selbst die Antwort: „Bei stets gleichbleibender Qualität des Aufnahmematerials, ja. Dafür garantiert eine große Spezialfabrik!“

Die Abschottung Nazi-Deutschlands macht den Betrieb noch größer: Die ausländische Konkurrenz bleibt aus. Eine „Kraftzentrale“ mit 100.000 Pferdestärken, die auf Hochtouren arbeitet, 40.000 Zentner Eis am Tag und eine Belüftungsanlage mit 600.000 Kubikmetern Frischluftleistung werden benötigt, ehe die endlosen Rollen Film am Ende des Produktionsprozesses eingewickelt werden.

Niels Bolbrinker und Kerstin Stutterheim rollen den Agfa-Film sozusagen von hinten auf. Sie beginnen bei den Ruinen der „Kathedralen des Fortschritts“, fangen an bei den traurigen Resten dessen, was einmal Europas zweitgrößte Filmfabrik und der größte Arbeitgeber für Frauen in der DDR war. Immer noch sind viele Frauen auf dem Gelände anzutreffen. Doch während ihre „flinken Hände“ früher größte Bedeutung im Arbeitsprozeß hatten, sind sie jetzt nur noch damit beschäftigt, die Reste größerer Zeiten möglichst naturschonend zu beseitigen.

Nicht nur die Geschichte der Fabrik zeichnen Bolbrinker und Stutterheim nach, sondern auch die der Menschen, die hier gearbeitet haben. Etwa die jenes Mannes, der den einsamen Beruf des „Emulsionärs“ ausübte. Nur etwa 150 Emulsionäre gibt es auf der Welt, die für die chemische Beschichtung der Filme verantwortlich sind. Agfa, so meint nun dieser Herr, sei der einzige Film gewesen, dessen Anspruch es war, die Farben der Natur wiederzugeben. Bei allen anderen herrsche der „schöne Schein“ vor, leuchtende Farben, in denen jeder so aussähe, als ob er eben aus dem Urlaub käme. Nun ist die Chance zu wirklichkeitsnahen Farben vertan. Eine kleine Episode in einem gelungenen, runden Dokumentarfilm, deren Bedeutung weitreichend ist.

Thomas Plaichinger

Noch heute und morgen, 18.00 Uhr, im 3001-Kino

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen