■ Welche Chancen hat Rot-Grün 1998? (1) Die Grünen sind viel besser als ihr Ruf, das Problem ist die Sozialdemokratie: Die deutsche Liebe zur Krise
Eine herausragende Eigenschaft der Deutschen ist es, beständig ihr Schicksal und das der Welt zu beklagen. Gewiß bietet die deutsche Geschichte der letzten hundert Jahre einen guten Grund für diese kollektive Volksmelancholie und unendliche Nörgelei. Trotzdem erstaunt es mich immer noch, wie oft und gern die Deutschen zum Beipsiel von Krise reden. Alles in diesem Land ist irgendwie in einer Krise. Insbesondere im Diskurs der Intellektuellen ist Krise eine Art Lieblingswort für nahezu jedes kleine Mißgeschick – oder sogar für dessen Ausbleiben.
Ein solcher Fall, in dem ein Nichtthema Grund zur Sorge bietet, ist die angebliche Krise der Grünen. Diese Krise drückt sich darin aus, daß die Partei in der Landes- und Kommunalpolitik ruhig, etabliert, ernst, professionell und kompetent arbeitet – und also die Mühen der Tagespolitik ohne großes Lamentieren erledigt. Dies wird nun als Krise der Normalität den Grünen vorgeworfen und als ihre Krise interpretiert: Sie besteht aus einem mutmaßlichen Mangel der Grünen an Vorstellungskraft, Führung, Mut und Visionen.
In der guten alten Zeit, den 80er Jahren, als bei den Grünen Selbstzerfleischung, ideologische Grabenkämpfe und persönliche Denunziationen alltäglich waren, warf man der Partei vor, geradezu den Inbegriff der Krise zu verkörpern. So scheint in Deutschland der Aufruhr ebenso wie das Gegenteil, die Ruhe, als Krise interpretiert zu werden. Angesichts solcher Forderungen kann niemand die Erwartungen erfüllen. Die Latte liegt einfach viel zu hoch.
Joachim Raschke, der beste Kenner der grünen Partei, hat gewiß recht, daß die Tage des selbstzerstörerischen Kampfes – die unruhigen 80er Jahre – intellektuell aufregender und politisch origineller waren als die jetzige Periode. Das Werden ist immer interessanter als das Sein. Das ist in der Politik so, im Leben übrigens auch. Dabei wird offenbar übersehen, daß die Grünen noch immer die bei weitem entschlossensten Anwälte der Frauen, der Armen, der Ausländer und der Freiheitsrechte des Individuums sind, um nur die Schlüsselbegriffe zu nennen. Und sie sind noch immer die Partei mit der bei weitem größten innerparteilichen Demokratie. Dies mag, im Vergleich mit den Schlachten der 80er Jahre, langweilig erscheinen, trotzdem ist es eine Errungenschaft, die Bewunderung verdient.
Die mutmaßliche intellektuelle Krise der Grünen, ihr angeblicher Mangel an neuen Ideen und innerparteilicher Debatte, ist weder Grund noch Folge ihrer angeblichen Krise. Statt dessen scheinen mir die folgenden Themen grundsätzlich problematisch für die Grünen und die deutsche Linke zu sein.
Die erste Krise betrifft den Vorfahren, Gegner und Partner: die Sozialdemokratie. Das Problem dieses Lagers veranschaulichte kürzlich die Kommunalwahl im einst legendären roten Wien. Wenn die SPÖ, die in fast allen Bereichen proportional immer viel stärker als die SPD war, in ihrer historischen Hochburg nur noch 39 Prozent bekommt, ist offensichtlich, daß diese einst stolze und erstaunliche Bewegung in einer existentiellen Krise steckt. Daraus wird sie, wenn überhaupt, nur völlig verändert herauskommen.
So ist das Problem der Grünen vor allem die Sozialdemokratie, der Partner, auf den sich die grüne Realpolitik fixiert hat. Ja, die SPD hat ein besonders destruktives Geschick, die eigenen mageren Erfolge zu torpedieren, und die Kunst, ihre eigenen Führer zu demontieren, zu neuen Höhen (oder soll man sagen: Tiefen?) geführt. Die Probleme der Sozialdemokratie sind strukturell, soziologisch, politisch und letztlich existentiell. Und keine Marketingstrategie kann verbergen, daß die Sozialdemokratie sich in den meisten Fragen, die Wähler in Europa beschäftigen, zur Nachhut und nicht zur Avantgarde entwickelt hat. Das heißt nicht, daß sozialdemokratische Parteien in Europa nicht auch gewinnen könnten. Selbst die SPD könnte dies, so überraschend es sein mag. Aber auch solche Siege werden keineswegs die fundamentalen Probleme lösen, die eine politische Bewegung, die sich auf den Industriearbeiter des späten 19. Jahrhunderts stützt, notgedrungen aufweisen muß.
Die zweite Krise bezieht sich auf die CDU/CSU und den deutschen Konservativismus nach Helmut Kohl. Der gegenwärtige Kanzler beherrscht die Szenerie übermächtig, und niemand ist in Sicht, der auch nur im entferntesten seine Statur, Macht und seinen Einfluß hat. Das macht die CDU und den deutschen Konservativismus zu einer vollständig unbekannten Größe. Man mag als progressiver Mensch Kohl viel vorwerfen (und ihm einiges, wie Bitburg, nie verzeihen), aber eins ist sicher: Er war immer ein überzeugter Europäer und Atlantiker, der nie einen Zweifel daran ließ, daß er Deutschland tief in Europa und der atlantischen Partnerschaft verwurzeln wollte. Er wollte ein europäisiertes Deutschland.
Diese Grundposition ist für die Post-Kohl-Ära in der CDU keineswegs gesichert. Es gibt keinen Zweifel, daß in wichtigen Parteizirkeln die Zukunftsvision eine ganz andere ist. Sie kommt einem germanisierten Europa weit näher als Kohls Vorstellung.
Für die Grünen ist dies eine ernsthafte Krise, weil sie somit in gewisser Hinsicht eine Geisel der SPD bleiben. Schon die CDU unter Kohl ist für die Grünen als potentieller Koalitionspartner unakzeptabel geblieben. Dies wird in Zukunft, unter einem seiner noch unbestimmten Enkel oder unter Wolfgang Schäuble, einem dreisten deutschen Nationalisten alter Schule, um so stärker so sein.
Um zusammenzufassen: Die Grünen haben auch ein paar selbstverschuldete, ernste Probleme. Wichtiger ist freilich, daß sie in der gegenwärtigen Parteienlandschaft über wenige akzeptable Optionen verfügen können. So sind sie, wohl oder übel, auf ihr eigenes Milieu zurückgeworfen – und das ist stets beengend und frustrierend. Der einzige Weg aus dieser Klemme ist, ebenfalls wohl oder übel, die Koalition mit den Sozialdemokraten – auch mit all ihren Problemen und Beschränkungen. Somit ist die grüne Krise der Normalität, des Alltags, der Realpolitik, der Politik vor Ort in erster Linie das Ergebnis zweier Faktoren. Zum einen des institutionellen Erfolgs, der – wie wir wissen – unvermeidlich zu einer gewissen Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit führt, wenn nicht gar zu direktem Konservativismus. Und der zweite Faktor ist der unerfreuliche Zustand der gegenwärtigen deutschen Politik. Andrei S. Markovits
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