: Die brutale Hemmungslosigkeit des reinen Krachs
Shut up, Mister Weihnachtsmann! Hier kommt die Merzbox – eine 50-CD-Anthologie des japanischen Noise-Terroristen Masami Akita
„Ich hatte gehört, dass Merzbow eine CD in einer speziellen Edition herausgebracht hatte, limitiert auf ein einziges Stück. Und nicht nur das: Diese CD befand sich in einem CD-Player und der wiederum in einem Mercedes-Benz“, berichtete Thurston Moore, Sänger von Sonic Youth dem amerikanischen Fanzine Resonance. Beinahe, gestand er, wäre er solchem warenförmigen Übertreibungswahn zum Opfer gefallen: „Ich habe mir dann zwar die weniger limitierte Ausgabe gekauft, die in einer Box mit einem T-Shirt beigelegt war. Dennoch war ich bald von dem Wunsch besessen, mir die Edition im Auto zuzulegen.“
Diese Anekdote ist bezeichnend für die Fan-Lust, alles irgendwie Ikonische seiner Helden besitzen zu wollen. Aus diesem Grund denkt sich eine Plattenfirma überhaupt erst so etwas wie die „Merzbox“ aus – ein 50-CD-Extremprojekt mit Dauerlärm-Garantie. Natürlich erscheint die Vorstellung, für eine Tonträgersammlung mal eben 500 Dollar hinzublättern, recht absurd. Doch mit der Merzbox erhält man nicht bloß ein Produkt, sondern einen Fetisch. Eintausendmal gibt es die Mega-Compilation weltweit: Schiere Produkt-Hybris schafft sich durch strenge Limitierung ihren eigenen Markt.
Der Noise-Terrorist Masami Akita alias Merzbow ist der berühmteste Angehörige eines Genres, das als „Japan Noise“ Undergroundgeschichte geschrieben hat. Unzählige Acts wie Violent Onsen Geisha, Masonna, Hijo Kaidan, Aube, MSBR oder CCCC waren und sind von der Idee besessen, mit elektronischem Equipment puren Ohrenschmerz-Lärm zu generieren, der meist völlig ohne Beats oder einen harmonischen Ansatz auskommt – reinen Krach, wie ihn sich der italienische Futurist Luigi Russolo bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts als ästhetisches Konzept erdacht hatte. Nirgendwo sonst kam man dem Ideal Russolos, „dass wir durch Auswahl, Koordinierung und Beherrschung aller Geräusche die Menschen um eine neue, ungeahnte Wollust bereichern können“, so nahe.
Auch Masami Akita hat immer wieder betont, dass für ihn Noise der erotischste Sound überhaupt ist. Und tatsächlich hat das bei ihm vorhandene Moment des Überwältigtwerdens und der brutalen Hemmungslosigkeit in seiner Musik einen durchaus sexuellen Beiklang.
Der Aspekt der Erotik durchzieht die ganze Arbeit von Masami Akita: Er ist Autor unzähliger Bücher über Bondage, und auch einige der auf der Merzbox compilierten Platten thematisieren Sex, Erotik und Porno. Sie heißen „Pornoise“ oder „Sadomasochismo/Lampinak“; eine andere, bekannte, aber nicht in der Box enthaltene Merzbow-Platte nennt sich „Music For Bondage Performance“.
Radikalisierung und Manie, die den Krach Merzbows auszeichnen, durchdringen dessen ganzes Schaffen. Schon allein durch ihre Überdimensioniertheit wird die Merzbox seinem Werk gerecht. Der Sonnengott des kosmischen Space-Jazz, Sun Ra, verlor irgendwann den Überblick darüber, wie viele Platten er aufgenommen hat; um die 130, schätzt man heute. Merzbow ist noch produktiver, seine Arbeit noch unübersichtlicher: Sein erklärtes Ziel ist es, irgendwann auf 1.000 Tonträger zurückblicken zu können – was bei seiner Veröffentlichungswut, die sich in minimalen Auflagen auf unzähligen Kleinstlabels niederschlägt, durchaus möglich erscheint.
Der Wert der Musik wird dabei weniger im immanenten Werkcharakter einzelner Platten gesucht, sondern in der künstlichen Verknappung der inflationär herausgeschleuderten, billigst produzierten Schnellschuss-Tonträger, die meist streng limitiert sind. Unzählig viel Merzbow-Kram gibt es nur auf Kassette, weil diese lange Zeit der billigste und am einfachsten zu bespielende Tonträger war. Der Verdienst der Merzbox ist, diese und andere, längst weitgehend verschollene Aufnahmen aus den Jahren zwischen 1979 und 1997 zu versammeln und diesen Maschinenlärm, vermeintlicher Industrieabfall, zu recyceln und neu zu collagieren – ähnlich wie bei den Materialbildern von Kurt Schwitters, auf dessen Merz-Kunst sich Masami Akitas Pseudonym bezieht.
ANDREAS HARTMANN
Merzbow: Merzbox. 50 CDs, incl. Merz-ROM, Merzposter, Merzbuch (Extreme)
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