: Die Zwanziger als britische Landpartie
Wie ein Gespräch zwischen Dashiell Hammet und Jane Austen über Intimität und Verbrechen: In Walter Satterthwaits Roman „Eskapaden“ treffen lüsterne Gespenster, junge Nymphomaninnen, spleenige Lords, skurrile Ladys und Artisten zu einer Séance zusammen ■ Von Niels Werber
Walter Satterthwait muß ein guter Gastgeber sein, wenn er eine so geschickte Hand bei der Auswahl seiner Gäste besitzt wie bei der Zusammenstellung seiner Romanfiguren. In seinem letzten Buch konfrontierte er ausgerechnet Oscar Wilde mit dem Wilden Westen, den der große Dandy 1882 auf einer Vortragstournee durchreiste. Den roten Faden der Handlung lieferte das Rätsel eines Serienkillers, der zur Begleitung des Dichters gehörte.
In seinem neuen Roman „Eskapaden“ greift der Autor aus Santa Fé zu anderen Zutaten, wählt aber ein ähnliches Rezept. Im Jahre 1922 treffen auf einem englischen Landsitz der berühmte amerikanische Entfesselungskünstler Harry Houdini und der Pinkerton-Detektiv Phil Beaumont auf ein skurriles wie illustres Publikum. In dem alten normannischen Schloß in Devon soll das bekannte Medium Madame Sosostris eine Séance durchführen, an der außer ihren Bewunderern, zu denen vor allem Sir Arthur Canon Doyle zählt, auch der Skeptiker Houdini teilnehmen soll, um die erstaunlichen Effekte ihrer Gabe als Trick zu entlarven.
Von Mylord, Lady Purleigh und ihrer (auf)reizenden Tochter geladen sind außerdem: Sir David, ein zynischer Baronet mit lüsternen Vorsätzen, Mrs. Corneille, eine elegante Dame von Welt mit schwarzem Bubikopf und seidenmatt schimmernden Beinen, der wienernde Psychoanalytiker Dr. Auerbach, die furchtbare alte Jungfer Miss Allerdyce, mit der die Herrschaft bedauerlicherweise verwandt ist, und die bezaubernde junge Frau Turner, die schlecht bezahlte und dafür reichlich erniedrigte Gesellschaftsdame der alten Allerdyce. Wie auf dem Stammsitz eines Peers von England in den 20er Jahren üblich, bevölkern eine Schar vornehmer Butler, (über)eifriger Dienstmädchen und einige Gespenster die Szenerie.
Der Leser erhält zwei sehr subjektive Perspektiven auf die bemerkenswerten Personen und Begebenheiten. Miss Turner schreibt ihrer Internatsfreundin, die ausgerechnet Evangeline heißt, mehrmals am Tag sehr intime Briefe, die nicht viel verschweigen, besonders nicht die sexuellen Phantasien der Dame und ihre Erfahrungen mit dem ihr zunächst unbekannten Geschlecht. Miss Turners interessante Mitteilungen ergänzen die Ich-Erzählung Phil Beaumonts. Die schlecht bezahlte Gesellschaftsdame und der gut bezahlte Privatdetektiv sind als Angestellte die sozialen Underdogs der adeligen Wochenendgesellschaft.
Außer ihrer Stellung teilen sie eine hervorragende Beobachtungsgabe, wie sie für einen Detektiv selbstverständich und für die Gesellschafterin einer launischen alten Frau überlebenswichtig ist. Doch beobachten die beiden Erzähler des Romans dasselbe mit ganz unterschiedlichen Interessen – Jane Turner mit der Absicht, durch wunderbare Schilderungen der luxuriösen Welt des Hochadels und bösartige Anmerkungen über ihre Arbeitgeberin die Jugendfreundin zu amüsieren, und Mr. Beaumont mit dem Ziel des Detektivs, der seinen Auftrag zu erfüllen sucht.
Ein überaus britischer und ein zutiefst amerikanischer Ton wechseln hier einander ab, als wäre Jane Austen im Gespräch mit Dashiell Hammett über Intimität und Verbrechen. Obwohl Satterthwait ausgezeichnet und vor allem amüsant erzählen kann, begnügt er sich nicht damit, die Merkwürdigkeiten von Ort und Personal seines Textes auszukosten. Wie schon Oscar Wilde im Wilden Westen erheblich mehr zu tun bekam, als nur aus seinen Werken zu lesen, bleibt es auf Maplewhite nicht beim Aufeinandertreffen der berühmten Madame Sorostris mit dem großen Meister Houdini. Auch die Begegnung des Pinkerton-Detektivs mit dem Erfinder von Sherlock Holmes und das Treffen des Frauenjägers Sir David mit der ziemlich erotisierten Jane Turner genügen nicht, Satterthwait hat seine interessanten Gäste nicht geladen, um sie sich selbst zu überlassen, er gibt ihnen etwas zu tun. Houdini wird von einem Konkurrenten gejagt, sein Leben ist bedroht, und Miss Turner wird von einem Gespenst mit erigiertem „Gemächt“ heimgesucht.
Mylord Robert gibt sich als Bolschewist, doch seinen Plänen, den Stammsitz in einen Golf- und Ferienclub für Proletarier aus dem Norden zu verwandeln, steht der unbeugsame Wille seines Vaters, des Earls of Axminster, entgegen. Sir David folgt seinen Neigungen und wird geohrfeigt. Und Phil wird von der Tochter des Hauses in Ketten gelegt. Bald wird geschossen, aber man weiß nicht auf wen.
Dann gibt es die berühmte Leiche im verschlossenen Raum, doch keinen Täter. Selbstverständlich schickt Scotland Yard seinen besten Mann, natürlich führen Sir Arthur Canon Doyle und Madame Sosostris ihre ganz eigentümlichen Ermittlungen. Auch die neugierige Jane und der clevere Phil stellen ihre Nachforschungen an, aber der „große Meister“ heißt schließlich Houdini.
Satterthwaits „Eskapaden“ haben zwei große Vorzüge: eine spannende Story und eine äußerst unterhaltsame Art, sie zu erzählen. Ein solcher Roman braucht die Konkurrenz von Film und Fernsehen nicht zu fürchten. Wer Gefallen an ihm findet, wird für ein paar kurzweilige Abende keine Zeit für Kino oder Glotze haben. Das ist mehr, als man von den meisten deutschsprachigen Neuerscheinungen sagen kann.
Walter Satterthwait: „Eskapaden“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner. Haffmanns Verlag, Zürich 1997, 398 Seiten, 44 DM
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