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Die Wüste lebt

■ Michael Roes' Roman „Rub'Al-Khali. Leeres Viertel“ / Barocke Tagebucheinträge nebst nüchternen Forschungsberichten

Wer in die Wüste geht, kommt darin um, mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Oder vielleicht doch? Der Berliner Autor Michael Roes ist jedenfalls 1994 nach eineinhalbjährigem Aufenthalt am Rande der größten Sandwüste der Welt bis auf die Knochen abgemagert und von Malaria gezeichnet zurückgekehrt. Am Leib nur die zerrissenen Fetzen, trug er doch bereits unter dem Arm das erste, noch handgeschriebene Manuskript. Er hatte es bei Beduinen verfaßt, die ihn vier Monate lang gefangengehalten hatten. Schon beim ersten Erscheinen errregte der Roman große Aufmerksamkeit.

Doch wer glaubt, zwischen den sandfarbenen Buchrücken, welche die 776 Seiten zusammenhalten, ritte ein zweiter Kara Ben Nemsi tagelang durch den heißen Wüstensand, um dann an einer Oase in die Arme einer lieblichen Schönen zu sinken, der hat den Titel „Leeres Viertel“ mißverstanden. Michael Roes geht es um den Kontrast zwischen der Reduktion und Kargheit des alltäglichen Lebens und dem Prunk der Phantastereien eines Lawrence von Arabien oder eines Indiana Jones. Die Lektüre des ziegelschweren Buches ist deshalb spannend, weil Roes sein Kontrastprogramm ästhetisch umsetzt. Kunstvoll verwebt er zwei gegensätzliche Texte: den nüchternen, beobachtenden Forschungsbericht aus der Jetztzeit mit den barock-fulminanten Tagebuchaufzeichnungen eines Reisenden des 19. Jahrhunderts.

Denn in „Rub'Al-Khali“ brechen gleich zwei Reisende auf, um den Jemen zu erforschen. Einer fliegt Mitte der 90er Jahre in einem Jumbo über Kairo. Er ist unschwer als das Alter ego des Autors zu erkennen. Doch nicht um eine Reisebeschreibung geht es dem Beobachter, sondern um die durchaus wissenschaftlich konsequente Verfolgung eines ethnographischen Projekts. Im Jemen, einem Land, das erst 1964 ans elektrische Stromnetz angeschlossen wurde, hofft der Forscher, in den unverfälschten Kinderspielen, wie sie an jeder Straßenecke gespielt werden, Grundsätzliches über den Charakter des Spiels zu erfahren. Und so tauchen als roter Faden immer wieder Spielbeschreibungen neben Alltagsszenen, flüchtigen sexuellen Begegnungen und Kriegswirren auf. Auch einen gewissen Alois Ferdinand Schnittke aus Weimar treibt es in den Jemen. Allerdings braucht er Anfang des 19. Jahrhunderts mit den damals verfügbaren Transportmitteln Kutsche, Schiff und Kamel über ein Jahr, um überhaupt den Ausgangspunkt der Expedition zu erreichen, das sagenumwobene Sanaa. Und auch er schreibt ein Reisetagebuch. Möglicherweise! Wahrscheinlicher allerdings ist, daß Autor Michael Roes diese alte Handschrift aus der Anna Amalia Bibliothek erfunden hat. Ein fiktives Fragment, wie es die Postmoderne seit Borges und Eco liebt.

Der Text reiht sich durch altertümelnde Orthographie und manche poetische Redewendung in die Bibliothek der Orientbegeisterung dieser Zeit ein. Der Reisende Schnittke befindet sich in einer bunten Gesellschaft, doch er entgeht der Einsamkeit nicht. Auf wundersame Weise kommen ihm seine Begleiter abhanden. Der Botaniker und Arzt Dr. Schlicher stirbt an der Pest, Baron Eugen de la Motte, der Geldgeber der ganzen Expedition, wird erschossen. Und selbst der hypochondrische Altphilologe Tertulio Liebetrud Schlotenbaum hält nicht bis zum Ende durch. Ein Skorpion sticht zu.

Der 1960 geborene Autor hatte nach dem Studium der Psychologie, Philosophie und Germanistik zwei Jahre lang als Regie- und Dramaturgieassistent an der Schaubühne gearbeitet. Dann lebte er bei Beduinen und schrieb darüber seine Dissertation, die gleichzeitig als Roman unter dem Titel „Jizchak. Versuch über das Sohnesopfer“ veröffentlicht wurde. Auch „Leeres Viertel“ will beides sein: Abenteuerroman und Forschungsprojekt.

Vorbereitet durch intensiven Arabischunterricht, fuhr Roes mehrfach in den Jemen. Vier Monate, beim Kriegsausbruch zwischen Nord- und Südjemen, verschleppt man ihn in die Rub'al Khali. Was daraus in den nächsten Jahren am Schreibtisch entsteht, ist eine Neuerfindung eines ästhetischen Konzepts, das sich selbst in äußerster Konsequenz verpflichtet ist. Bis zum Schluß wird der Leser von diesem Roman nicht loskommen. Er ist an die noch so kleinen Geschehnisse des Gefangenenalltags gefesselt, hängt an Roes Angelhaken wie ein Fisch im seichten Wasser, das Ufer schon in Sicht. Der Faden hält dennoch. Durch die unaufgeregte Sprache seiner nüchternen Beobachtungen fühlt der Leser den hohen Wahrheitsgehalt, die die Risikobereitschaft des Autors ihm schenkt. Roes versteht es meisterhaft, die Lust am Wissen über die Wüste „Rub'Al-Khali“ zu nähren. Es ist ihm in seinem ästhetischen Konzept des Selbstversuchs und Abenteuerromans eine, Erzählform gelungen, die bei der Erforschung des Spiels mit sich selber spielt. Verwobene Fiktion und Dokumentation stillen die Sehnsucht der Leser nach Wahrheit und Erfahrung. Susanne Raubold

Michael Roes: „Rub'al Khali. Leeres Viertel“, Edition Gatza bei Eichborn 1996, 776 Seiten, 49,60 Mark

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