: Die Wirklichkeit sieht anders aus
betr.: „ Überstunden schrumpfen“ (Kurzmeldung, taz vom 3. 1. 04
Alle Jahre wieder dasselbe Spiel: Ein „Institut“ meldet, die Zahl der Überstunden habe „ein neues Rekordtief“ erreicht, die Springer-Blätter trompeten die Meldung in die Welt (die gleichnamige Zeitung ist tatsächlich immer die erste und wird auch in TV- und Radiosendungen zitiert) – und der Rest der Presse druckt den Blödsinn ohne journalistische Bemühungen nach.
Die Wirklichkeit sieht anders aus (auch und gerade bei den diversen Springer-Firmen – ein Grund für die Kampagne?): Vollzeitstellen werden abgebaut und entweder durch Teilzeitstellen bzw. „Minijobs“ ersetzt (deren Inhabern man von vornherein klarmacht, dass 20 Überstunden pro Woche im Lohn „enthalten“ sind) – oder gar nicht. In Arbeitsverträgen wird (obwohl gesetzlich vorgeschrieben) überhaupt keine Arbeitszeit mehr festgelegt oder angegeben. Wer noch einen Vollzeitjob hat, arbeitet für die gestrichenen Stellen mit – anfallende Überstunden werden weder (wie gesetzlich vorgeschrieben) registriert noch gar bezahlt oder „ausgeglichen“. Eine zufällige Umfrage im Bekanntenkreis ergibt: 10 bis 15 unbezahlte Überstunden pro Woche sind absolut normal, manchmal werden es auch 30 bis 40 (inklusive Wochenenden, Nächte und Feiertage); Mittagspausen etc. gibt es seit Jahren nicht mehr. Und selbst dort, wo Überstunden immer noch registriert werden, können sie meist längst nicht mehr „ausgeglichen“ werden, weshalb man sie am Jahresende einfach löscht und aus der Statistik streicht.
Und die „linke“ Presse? Lässt sich für die Kampagne einspannen, anstatt zu recherchieren oder wenigstens mal nachzufragen, wer solche Lügen lanciert und zu welchem Zweck. Das ist schon ein bisschen traurig. MICHAEL SAILER, München