: Die Wiederentdeckung der Oder
Unter Europas Strömen galt die Oder lange als Neutrum. Doch allmählich entwickelt sich links und rechts des Flusses ein Bewusstsein vom gemeinsamen Kulturraum, erwacht das Interesse an den Nachbarn
VON UWE RADA
Es gibt Flüsse, die kennt man, bevor man zum ersten Mal an ihre Ufer tritt. Der Rhein zum Beispiel hat sich früh ins kollektive Gedächtnis der Deutschen geschrieben. Als „Vater Rhein“ steht er zunächst für göttliche Erhabenheit und mit Rheinwein begossene Sinnesfreude. Später dann, mit dem beginnenden 19. Jahrhundert, wird er national aufgeladen und als „Wacht am Rhein“ zum Symbol für den deutschen Kampf gegen den „Erbfeind Frankreich“. Zum weiblichen Pendant des „Vaters Rhein“ wird die Loreley. Ihr haben Clemens von Brentano, Heinrich Heine und Friedrich Silcher zu literarischem und musikalischem Ruhm verholfen.
Die Donau verlieh einst einer ganzen Monarchie ihren Namen und trug, wie Claudio Magris in seiner Geistesgeschichte dieses europäischen Flusses gezeigt hat, die vielstimmige Melodie (und die königlich-kaiserlichen Anordnungen) der Doppelmonarchie von Wien und Budapest bis fast ans Schwarze Meer. Anders als der Rhein symbolisiert die Donau weniger eine Grenze. Vielmehr steht sie bei Magris für das friedliche, wenn auch nicht konfliktfreie Zusammenleben im ehemaligen Vielvölkerreich Österreich-Ungarn.
Die Weichsel wiederum ist jedem Schulkind in Polen als der „polnischste aller polnischen Flüsse“ bekannt. Schon im 16. Jahrhundert wurden ihr Hymnen wie diese gewidmet: „Fließe, meine liebe Weichsel, bis zum Seehafen und helfe so gut du kannst dem Königreich Polen.“ Als dieses Königreich 1772 erstmals zwischen Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt wurde, wurde die Weichsel zum Symbol des nationalen Überlebenswillens.
In diesen Flussbildern spiegeln sich die vielstimmigen und oft widersprüchlichen Selbstverständigungen jener, denen der Fluss Lebensader ist oder auch nur Sehnsuchtsort. Sie sind Ausdruck kollektiver Erzählungen einzelner Nationen wie an der Weichsel, nationaler und kultureller Grenzerfahrungen wie am Rhein oder vielsprachigen Alltags wie an der Donau, deren Bezugsraum das einst vergessene und nun wiederentdeckte Mitteleuropa ist.
Vergleichbares lässt sich von der Oder nicht sagen. Kein Mythos, wie der des „Vaters Rhein“, ist ihr zu eigen, keine Untiefe hat es an der an Untiefen beileibe nicht armen Oder zu literarischem Ruhm gebracht wie die unterm Felsen der Loreley. Nicht einmal eine Eisenbahn fährt an ihren Ufern und gibt dem Reisenden Gelegenheit, durchs Fenster hindurch von seinem Fluss zu träumen.
Wenn der Oder ein Odium anhaftete, war es das von Mühe und Schweiß. Das haben auch die wenigen Dichter erkannt, die der Oder einige Zeilen gewidmet haben. In seinem 1912 erschienenen „Märchen von den deutschen Flüssen“ verlieh der Volksdichter Paul Keller denselben Menschengestalt. Während ihm die Elbe dabei zur schönen Gräfin wird, bleibt der Oder nur das Schicksal eines „Bauernweibes“: „Mit stillen, sicheren Schritten geht sie durch ihre Lande. Kalk- und Kohlestaub liegen manchmal auf ihrem Kleid, zu ihrem einförmigen Lied klopft der Holzschläger den Takt. Sie hat immer Arbeit, schleppt ihren Kindern Kohle und Holz, Getreide und hundertfachen Lebensbedarf ins Haus. Die bei ihr wohnen sind geborgen und glücklich, und wenn sie ans Meer kommt, breitet sie angesichts der Ewigkeit weit und fromm ihre Arme aus.“
Zeichnet Keller die Oder immerhin als durchgehende Flusslandschaft von der Quelle bis zur Mündung, beschränkt sich die nicht gerade reichhaltige Oderliteratur meist auf einzelne Landstriche oder Städte. Theodor Fontane bereist in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ das „Oderland“ lediglich von Frankfurt bis Schwedt. Gustav Freytags Oder ist die enge (und nicht selten antisemitische) Welt der Breslauer Bürger.
Gibt es also überhaupt „die Oder“? Oder ist das die bloße Konstruktion eines Flusses, dessen Landschaft eher die Summe seiner Fragmente ist denn ein zusammenhängender Kulturraum? Reden wir heute, wenn wir „an die Oder“ fahren, über den Fluss, der in 633 Meter Höhe im mährischen Odergebirge bei Kozlava entspringt, 59 Kilometer durch Tschechien mäandert, 580 Kilometer lang ein polnischer Fluss ist, auf 162 Kilometern die deutsch-polnische Grenze markiert, bevor er, wieder als polnischer Fluss, ins Stettiner Haff mündet und von dort als Peenestrom, Swine und Dievenow in die Ostsee? Meinen wir jenen Fluss, der mit seinen 860 Kilometern der Länge nach die Nummer 13 in Europa ist und der von den Hydrologen wegen seines mächtigen Einzugsgebiets von 118.611 Quadratkilometern in den Rang eines Stroms gehoben wird?
Oder meinen wir wie Fontane nur einen Ausschnitt: die einzigartige Auenlandschaft im Unteren Odertal; die von Berlin schnell erreichbare Oder bei Frankfurt und Słubice; die Oder, die zwischen Brzeg Dolny und Hohensaaten zu den letzten frei fließenden Flüssen in Europa zählt; die liebliche Oder mit ihrer Insellandschaft mitten in Breslau?
Fragen wie diese hat man sich auch an anderen Flüssen gestellt. „Der einheitliche große Rhein“, schrieb Lucien Febvre, einer seiner Biografen, bereits 1931, „ist eine moderne Erfindung des Menschen: von Politikern, Ökonomen, Industriellen und Händlern.“ Bis zum 19. Jahrhundert habe es „mehrere Rheine“ gegeben, die zu unterschiedlichen Zeiten mehr oder weniger erfolgreich gewesen seien. „Um die Rolle des großen Stromes bei der Herausbildung und den Fortschritten Europas zu verstehen“, folgerte Febvre, „muss man also die Vorstellung von einem einheitlichen Flussband zwischen Basel und Rotterdam aufgeben und sie durch die Vorstellung eines Gitters mit gekreuzten, aber hinsichtlich Kraft und Abständen ungleichen Stäben ersetzen.“
Jenseits der Fragmentierung in die „mehreren Rheine“, räumt Febvre ein, habe es aber immer auch einen verbindenden „Geist des Rheines“ gegeben, „ohne Rücksicht auf Hindernisse, Grenzen, Burgen, Landesfürsten“.
Was aber ist der „Geist der Oder“? Welche Erzählungen spinnen sich um einen Fluss, der schon bei der „freien Bewegung“ Probleme aufwirft? Acht Monate im Jahr ist die Oder schiffbar, wenn man Glück hat. Doch im Sommer geht oft gar nichts mehr, dann ist die Oder an manchen Stellen nicht einmal einen Meter tief. Das Gitter, das man nach Ansicht Febvres über die Flüsse legen soll, um eine Vorstellung der Kräfte zu bekommen, die an ihnen wirken, hat an der Oder besonders dicke Stäbe.
Das gilt auch für die politische und wirtschaftliche Geschichte des Oderraumes. Lange bevor die Oder 1945 zum Grenzfluss zwischen Deutschen und Polen wurde, war sie bereits ein in vielerlei Hinsicht geteilter Fluss. So hatte bis zur Eroberung Schlesiens durch den Preußenkönig Friedrich II. jeder seine eigene Oder: die schlesischen Herzogtümer, die zunächst zu Polen gehörten, später zu Böhmen und schließlich zu Österreich, die Brandenburger am Mittellauf des Flusses, die Pommern und Schweden an seinem Unterlauf. Selbst der Ausbau der Oder zur Wasserstraße unter Friedrich II. konnte am „Geist der Oder“ als dem eines fragmentierten Flusses nichts ändern. Mit den Schlesischen Kriegen und der ersten Teilung Polens stand das preußische Projekt der Modernisierung neben dem einer Militarisierung des Oderraums.
Modernisierung wie Militarisierung sollten die Oder bis in die jüngste Zeit begleiten. So wurden bis in die 1930er Jahre zwischen Cosel, das zum zweitgrößten Binnenhafen des Deutschen Reichs wurde, und der schlesischen Metropole Breslau 26 Staustufen gebaut. Gleichzeitig wurde die schlesische Oder nach dem Ersten Weltkrieg und der „Wiedergeburt“ des polnischen Staates zum „gefühlten“ Grenzfluss zwischen Deutschen und Polen. Der Fluss wurde von den Nationalisten zum „Fluss des deutschen Ostens“ stilisiert. An seinen Ufern entstanden die Bunker und Schützengräben der „Oderstellung“.
Um so faszinierender ist es, dass wir seit einiger Zeit Zeugen einer Wiederentdeckung dieses europäischen Flussraumes sein können. Überall wenden sich die Städte wieder ihrem Fluss und seinen Ufern zu, als gelte es, eine jahrzehntelang gewahrte Distanz zu überwinden. Man nimmt plötzlich Verbindung auf zu den anderen Städten, die an der Oder liegen und nun ein gemeinsames Band bilden, ein Oderband.
Auf den Oderinseln in Breslau, dieser beschaulichen Idylle inmitten des Großstadtlebens, hat man Uferwege und Fußgängerbrücken neu gebaut. Stadt und Fluss, noch nie schienen sie so gut miteinander zu harmonieren wie heute. In Glogau, im Krieg zu 95 Prozent zerstört, bauen polnische Architekten die Altstadt wieder auf und erfinden ihre Stadt neu. Darüber hinaus ist Glogau zu einem Zentrum des sanften Tourismus an der polnischen Oder geworden. In Frankfurt, das sich mit dem Wiederaufbau der Innenstadt nach dem Krieg um die eigene Achse gedreht und dem Fluss wie dem polnischen Słubice den Rücken zugewandt hatte, kann man wieder an der Oder promenieren. Gleichzeitig wurde mit der Wiedergründung der Europa-Universität Viadrina, die dem Namen nach ja nichts anderes ist als eine Oderuniversität, ein Zeichen gesetzt für das Zusammenwachsen Europas. Der Oder wurde neben Breslau und Stettin ein drittes geistiges Zentrum geschaffen.
Am nachhaltigsten ist freilich die Wiederentdeckung der ehedem zerrissenen Geschichte der Oder. In zahlreichen Orten und Städten haben sich Hobbyhistoriker und engagierte Bürger in den vergangenen Jahren um die Neuentdeckung und Bewahrung des kulturellen Erbes bemüht. In Breslau oder Glogau ist die deutsche Geschichte kein Tabu mehr, sondern Verpflichtung. Auf der deutschen Seite sind die Enkel der Vertriebenen zu engagierten Verfechtern einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit geworden.
Was sie eint, ist die Überzeugung: Mit der Vergangenheit in die Zukunft. Nur so kann das Vorhaben gelingen, sich den Fluss zu teilen, der selbst so lange teilte und geteilt war. Und nur so kann ein neuer „Geist der Oder“ geschaffen werden. Nicht mehr die Oder als Grenzfluss, sondern die Oder als ein narrativer Raum, in dem sich die Menschen ihre Geschichten erzählen – die von Krieg und Vertreibung, die von den Koffern, die man schließlich ausgepackt hat, die der Wünsche an die Zukunft. Denn das wäre ja auch ein Einzugsgebiet eines Stromes: zu erfahren, woher und warum die Menschen, die vor wenig mehr als einem halben Jahrhundert woanders gelebt haben, an diesen Strom gekommen sind. Und hier, mitten in Europa, eine neue Heimat gefunden haben.
UWE RADA, 42, bereist die Oder seit langem. Dieser Text ist die stark gekürzte Fassung eines Kapitels seines neuen Buches „Die Oder. Lebenslauf eines Flusses“, Kiepenheuer, 224 Seiten, 140 Abb., 19,90 Euro