: Die Widersprüche verschärfen sich
betr.: „Ein unilateraler Akt“ von Robert Misik, taz vom 4. 11. 04
Sosehr mich der Beitrag zum Schmunzeln angeregt hat ob des verbissenen, überzeugten Tons, der leider der taz in einigen Bereichen abhanden gekommen scheint, so sehr erschreckt mich die Linearität des Denkens und der Prognosen. Seit Hegel sollte uns die Dialektik vertraut sein, seit Marx deren materialistische Wurzeln. Klar, die Widersprüche verschärfen sich. Dann sag das aber auch. Ein Verfall in einen abendländischen Untergangstonfall wird der Situation nicht gerecht. Trotz allem religiösen Fundamentalismus bleibt die USA ein aufgeklärtes und zutiefst demokratisches Land.
Die Folterknechte im Irak sind nicht das Amerika, aber sie sind ein Teil von Amerika. Die braunen Kohorten sind nicht das Deutschland, aber sie sind ein Teil Deutschlands. Ich sehe da etwas Schaum vor dem Mund, der mir bei aller Kritik an der Bush-Administration deshalb nicht gefällt, weil er keine Analyse bietet. Schau die Landkarte der Wahlergebnisse an, dann wirst du etwas mehr verstehen. Die amerikanische Gesellschaft ist gespalten in eine entpolitisierte, fast fundamental konservative Mittelzone, und in eine umkämpfte Randzone im Osten und Westen. Oder: In den Ballungsräumen weicht die Beschaulichkeit den realen politischen Konflikten. Oder: Die Südstaaten sind eh konservativ – dort, wo das Geld erwirtschaftet wird, gibt es auch Demokratie. Oder, oder …
Ich sehe eine Nation am Rande ihres konservativen Selbstverständnisses. Das Wahlrecht stammt aus den Zeiten der Postkutschen und der Eisenbahn, die Selbstständigkeit im Wahlverfahren der einzelnen Bundesstaaten ebenso. Dialektisch gesehen werden die moderneren und zivilisierteren Randgebiete dieses nicht mehr lange ertragen. Die One-Nation-one-President-Gefühle werden bald der Vergangenheit angehören. HANS JÜRGEN VIETZ, Goslar
Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von LeserInnenbriefen vor.Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.