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Die Widerhaken der Wirklichkeit

Sarkastisches Ungeheuer, ewiges Mädchen: Die britische Tragödie gibt sich einmal mehr zum Schreien komisch. Nick Hurrans Wettbewerbsbeitrag „Girls' Night“ ist eine genaue Milieustudie ohne Angst vor industrieller Tristesse und kommerziellem Schund  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Es gehört zu den großen Talenten der Engländer, die ernstesten Dinge zu verhandeln und daraus urkomische Geschichten zu schmieden. In „Brassed Off“ (Berlinale vom letzten Jahr) und in „Ganz oder gar nicht“ (kürzlich im Kino) ging es um die Arbeitslosigkeit von Männern; „Girls' Night“, wie der Titel ironisiert, handelt von gestandenen Frauen. Diese sind verheiratet, knechten in der Halbleiterfabrik, finden sich keifend und kreischend beim Bingospiel zusammen und werden vom Schicksal getrennt.

Die Angstlosigkeit, mit der ein äußerlich unscheinbarer, immer freundlicher Regisseur von 38 Jahren – namens Nick Hurran – die Milieus abgrast und sich nicht schrecken läßt von industrieller Tristesse und kommerziellem Schund, ist einfach beeindruckend. Etwa dann, wenn die Tür eines Mikrogrills zufällt und die Benutzerin, in Lockenwicklern, in der Spiegelung erscheint. Nick Hurran arbeitete übrigens bisher hauptsächlich fürs Fernsehen. Für die BBC drehte er mehrere Filme und Serien, ehe er 1996 mit „Remember me“ als Spielfilmregisseur debütierte.

Im Zentrum von „Girls' night“ steht die Geschichte der milden, immer verzeihenden, kichernden Dawn und ihrer Schwägerin Jackie, eines lebenslustigen Biests mit Neigung zum Kuppeln und zum Fremdgehen. Da sitzen sie mit vielen Frauen in blauen Kitteln in einer hellbeleuchteten Halle und rocken zu Roy Orbisons „Pretty Woman“, während sie elektronische Standardware montieren. Das ist die einzige Stelle des Films, die wie Musical aussieht.

Ein gewaltiger Gewinn beim Bingospiel müßte das Leben von Dawn drastisch verändern, haut aber vor allem Jackie aus der Bahn. Sie bekommt nämlich einen Teil des Gewinns. Den nutzt sie, um ihren Mann zu verlassen – und die Fabrik ebenfalls –, um in der Wohnung ihres Lovers fortan eifersüchtige Hausfrau zu spielen, was nicht gutgehen kann und nicht gutgeht. Ihre Schwägerin Dawn aber sackt in der Fabrik schüttelnd unter die Werkbank und muß im Krankenhaus begreifen, daß sie einen Hirntumor hat. Sie beginnt die harte Therapie und bricht sie ab; ihrem Mann sagt sie nichts, er kommt nicht drauf. Die Kinder sind mit Zank beschäftigt.

In der epischen Breite von „Girls' Night“ haben die Genres bequem Platz: die Komödie, der Problemfilm, das Melodram und die Tragödie, auf die es hinausläuft. Das einzige wirkliche Manko ist die bei weitem zu billige Tastenmusik, die den großen Momenten bisweilen die großen Gefühle auszusaugen droht; dennoch ist die Mitnahme einer Packung Tempo anzuraten.

Die Schärfe, mit der Frauen der working class in ihren Mittvierzigern beobachtet werden, macht die Kraft des Filmes aus: sarkastisches Ungeheuer und ewiges Mädchen. Jackie ist mehr die eine, Dawn mehr die andere. Julie Walters' Fassung der lüstern ergrauenden Was-kostet-die-Welt-Jackie ist abgründig. Dawns introvertierter Verzicht kommt als veritable Leinwandsensation daher – denn das, was Brenda Blethyn liefert, hat mit dem Bild der Kinoschauspielerin nichts, aber auch gar nichts zu tun. Die Abwesenheit vom Glamour hat selbst schon wieder etwas Glamouröses.

Das Gegenbild der Welt von Fabriken, Hypotheken und immer flackernden TV-Bildschirmen ist „to take a bloody holiday“, und die Dream-come-true-Reisen führen zu den bekannten Zielen. Im Fall von Jackie und Dawn muß es Las Vegas sein, weil eine US-Firma einen Teil des Budgets beigesteuert hat. Was Nick Hurran daraus macht, ist umwerfend: Ein gänzlich banaler Ort wie der Las Vegas Strip wird zum Schauplatz schrecklicher Wunder. Dawn, vom Sterben nicht mehr weit entfernt, leert die einarmigen Banditen; und die stürzenden Vierteldollarstücke zeigen sich als bleischwere Boten eines irgendwie pervertierten Glücks. Es ist in jeder Hinsicht zum Schreien.

Dort, beim blutigen Urlaub, zeigt sich auch Kris Kristofferson mit seinem bizarren Echsengesicht. Als er einem Pferd das Vorderbein massiert, sagt Jackie: „If he treats a woman like he treats that horse, he's a pretty good catch.“

Dieser Satz, so wie alle anderen, stammt aus der Werkstatt einer Drehbuchschreiberin namens Kay Mellor, die mehr als nur ihr Handwerk kann. Sie schüttet die Sentenzen aus ihrem Füllhorn, und wir dürfen baden in einer Sprache, die getränkt ist vom Sozialen. Die Männer, in Nebenrollen, sind dabei keineswegs die Dussel; die Trauer des einen und die Niederlage des anderen werden nicht übergangen. Das britische zeitgenössische Kino – neugierig, einfühlend, klar und obszön – brilliert in der Abwesenheit jeglicher Angst vor den Widerhaken der Wirklichkeit.

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