Die Lage besäufniserregend

Archäologie des Schaukastens: Beobachtungen zur Verwehtheit der provinziellen Werbewelt

Das große Thema des Schaukastens: Leere Foto: Karsten Thielker

Von Jürgen Roth

Eine verbreitete Usance, eine Unsitte ist es mittlerweile, während des Herumhockens vor Kneipen und Cafés aus Smartphones grausliges Zeug herausdudeln zu lassen, vom deutschen Schlager bis zur komplett kaputten Rap-Gang 187 Straßenbande, in möglichst hoher Lautstärke und somit selbstredend ohne Rücksicht auf die sogenannte Mitwelt, die es vermutlich sowieso nicht mehr gibt. Freund Ossama kommentierte das bei einem Kräuterschnaps mal lapidar so: „Ich muss trinken, um mit der Musik klarzukommen.“ Und Freundin Jana ergänzte: „Die Gesamtsituation ist besäufniserregend.“

Zurzeit sitze ich jeden Tag bei einigen Weizen vor dem Seven Bistro, einem Automatenspieler- und Bölkerasyl an der Hauptstraße im fränkischen N. Sofern mich der Große Malaka, ein ausgesprochen netter Grieche, der der hiesigen Koiné eine apart verstolperte Varietät hinzufügt, nicht vollquallt und auch sonst die akustischen Reize auf den Autoverkehr beschränkt sind, fröne ich der visuell grundierten Meditation, das heißt: Ich glotze in die Gegend.

Gegenüber, vor dem schmiedeeisernen Zaun mit bemoosten Pfeilern, der die Barbaren vom Betreten des herrlichen Baronparks mit uraltem Baumbestand und bunten Vogelgesellschaften abhält, stehen seit meiner Kindheit zwölf Schau- oder Mitteilungskästen. Die Scheiben sind trübe und verschmutzt, sie wurden seit ewigen Zeiten nicht mehr geputzt.

Schaukästen, hoffnungslos obsolete Kommunikationsinstrumente, findest du praktisch nur noch auf dem Land. Selbstverständlich hält hier kein Traktorist an, um sich über dieses oder jenes zu informieren, und kein Fußgänger wirft je einen Blick auf die Aushänge.

Ich habe in den vergangenen Wochen eine Art Zuneigung zu diesen Relikten entwickelt, diesen stummen Zeugen der analogen Welt. Und ich registriexre jede winzige Veränderung.

Allein die Phalanx, von links nach rechts gelesen, gleicht reiner Poesie: CSU – SPD Sozialdemokratische Partei – Grüne (ohne Namensnennung) – Arbeiterwohlfahrt – MGV Neuen­dettelsau – Obst- u. Gartenbauv. – Rotes Kreuz – Vogelschutzverein – Heimat- u. Geschichtsverein – Schützenverein – Kraftsportverein – TSC Neuendettelsau – Freiw. Feuerwehr – Freie Wähler – Bund Naturschutz – Bürgergemeinschaft – RK Neuendettelsau – Fanclub Schell 7 – Leichtathletik – Tischtennis. Da haste das ganze Dorf beieinander – beziehungsweise dessen Reste.

Beim Schützenverein, bei den Freien Wählern und beim Bund Naturschutz klafft Leere, ein paar ermattete Magnete pappen, aleatorische Muster bildend, noch drin. Unter Kraftsport, der ebenfalls recht abgeschlafft wirkt, fällt nun offenbar sogar das Reiten („Reiten lernen – Freunde werden“), die Leichtathleten und die Pingpongfexe machen sich gemeinsam für eine „Familienbewegung für Demokratie“ stark (was immer das sein mag), und die Cluberer (Schell 7) bewerben auf einem vergilbten Plakat die Jugendratswahl 2020 (!).

Eine ergreifende Verwehtheit spricht aus alledem. Immerhin der Sportverein, der TSC, sieht verschämt kleine Perspektiven, und zwar im Lenkball („Das völlig neue Rückschlagspiel für Jung und Alt“), der RK, der Reservistenverband, vermeldet tapfer: „Mein Freund ist Reservist“ (Pistorius dürfte’s freuen), und die Feuerwehr schmeißt sich mit dem layouterisch erbärmlich in Szene gesetzten Bekenntnis „Gemeinsames Musizieren ist meine Quality Time“ an die Jugend ran, wahrscheinlich eher vergeblich. Für so was hat man Handtelefone.

Am besten gefiel mir, dass die Grünen zwischenzeitlich die Segel gestrichen hatten und an ihrem Kasten dafür plötzlich ein Flyer hinsichtlich eines „Fliegerfestes“ in Ansbach (mit ordentlich Verbrennungsmotorenlärm) klebte. Der wurde allerdings bald zum lange verschiedenen Männergesangsverein (MGV) umgehängt, um jetzt doch wieder eine „Einladung zum Herbstfest“ („mit Federweißer und Zwiebelkuchen in bio-regionaler Qualität“) auszusprechen. Das wird den Abbruchladen zum Glück nicht retten.

Die Scheiben sind trübe und verschmutzt, sie wurden seit ewigen Zeiten nicht mehr geputzt

Meinen Dummheitspokal hatte zunächst die CSU wegen der in Kalk gemeißelten Franz-Josef-Strauß-Losung „Ein starkes Bayern für Europa“ eingeheimst, fiel aber zwei Wochen später aufgrund der Ankündigung des „Grillfestes 2024“ – unter dem Motto „Lieblingsort Bayern“ – auf den Silberrang zurück.

Denn sowieso war ihr die SPD bereits durch den steinstumpfen Appell „Deine Stimme gegen Hass und Hetze“ gefährlich auf den Pelz gerückt, um schließlich unwiderstehlich an den Christdemokraten vorbeizuziehen, mit dem begnadet verlogenen, ranschmeißerischen und orthografisch zweifelhaften Versprechen: „Deutschland voranbringen – Wir sorgen für mehr Wachstum, mehr Sicherheit und stärken das Soziale. Für all diejenigen, die unser Land am Laufen halten. Wir machen Soziale Politik für Dich.“

Am Ende, nach neuerlich näherem Hinsehen, thronten indes freilich die Vogelbeschützer über all dem Quark. Die feiern nämlich meinen Freund, den Kiebitz, den Vogel des Jahres, und locken mit diversen Stammtischbesäufnissen. Und an denen werde ich als Mitgliedsbeitragszahler, natürlich zumal im Sinne der Stärkung des Sozialen, in einem starken Bayern total hassunerfüllt und ungehetzt partizipieren. Das kannste aber glauben.